Arthur Schnitzler in Währing
Eine wienerische Topographie
Von Renate Wagner
Jeder sorgliche Biograph wird darauf achten, wo der Mensch, den er sich zu schildern vornimmt, lebt. Genauer noch: Wo er wohnt, denn das Wohnen ist ebenso ein essentieller Teil des Lebens wie der Lebensqualität. Wo man wohnt, ist in den meisten Fällen, wenn nicht äußere Zwänge walten, eine bewusste Entscheidung – und wenn es keine ist, dann mag auch dies von signifikanter Aussagekraft sein.
Wenn der Dichter Arthur Schnitzler nahezu die letzten dreißig Jahre seines knapp 70jährigen Lebens in Währing, diesem grünen Außenbezirk Wiens, zugebracht hat, so mag das teilweise auf Zufällen beruhen, wurde aber von ihm in vollem Maße angenommen. Und dieser sein Wohnort hat ganz ohne Zweifel sein Leben in dieser Epoche bedeutend beeinflusst.
Will man auf Arthur Schnitzlers Spuren im vollen Wortsinn wandern, hat er selbst der interessierten Nachwelt, die spezifisches Interesse an ihm nimmt, neben seinem Werk noch einige mehr als wertvolle biographische Hilfsmittel in die Hand gegeben, vor allem sein Tagebuch. Es gibt große Tagebuchschreiber – Thomas Mann oder Theodor Herzl waren solche -, aber es gibt kaum Vergleichbares zu dem „lebensbegleitenden Werk“, das Schnitzler hinterließ. Allein die Disziplin, die es bedeutet haben muss, von früher Jugend an Tag für Tag das Wesentliche zu notieren, das sich ereignet hat, nötigt Bewunderung ab. Dazu kommt die Vielschichtigkeit dieses Tagebuchs, das er benutzte, wie er es gerade wünschte – für kalendarischen Eintrag von Fakten, für grundsätzliche Analysen äußerer Ereignisse, für die Schilderung und Hinterfragung der eigenen Seelenzustände.
Von gleichem Wert, oft noch wertvoller sind die Briefe, da sie den Autor nötigten, einen anderen Menschen anzusprechen, also jedenfalls klar zu formulieren, wofür ihm im Tagebuch eine Chiffre reichen mochte. Jedenfalls kann man auf eine Menge Material aus erster Hand zurückgreifen, das ein Stück Existenz umreißt – und wo das Thema „Wohnen“ zum Thema Leben wird.
Man sagt gerade den Wienern besondere Sesshaftigkeit nach, den Unwillen, ihre Stadt zu verlassen – selbst noch in einem Zeitalter wie dem unserem, wo Mobilität als besondere Qualität gepriesen wird. Dabei geht die Wien-Treue der Wiener noch über die Stadt hinaus: Vielen wird nachgesagt, sie würden nicht einmal ihren Bezirk verlassen wollen. Ingeborg Bachmann setzte dem „Dritten“ mit ihrem „Ungargassenland“ ein literarisches Denkmal – so, wie die Topographie Wiens sich ja auch in Arthur Schnitzlers Werk vielfach spiegelt.
Schnitzlers Wien: Die Stadt im Werk
In Schnitzlers Fall sind es nicht die realen Wohnorte, die sich mit seiner Person verbinden, sondern eher jene „stimmungsbildenden“ Wien-Elemente, die man aus seinem Werk holt – wobei der Dichter lebenslang an den Klischees litt, die Kritik und Öffentlichkeit mit leichter Hand an ihn hefteten, als schilderte er ein geträumtes, ideales Wien. Tatsächlich ist es aber natürlich das „echte“ Wien, das sein Werk reflektierte – es gab die Luxuswohnungen an der Ringstraße, wo seine Helden wie Anatol oder vermutlich auch ein Fabrikant wie Hofreiter („Das weite Land“) wohnten, selbstverständlich in Wirklichkeit – auch Schnitzler lebte eine Zeitlang in solchen. Die Vorstadtwohnungen, in denen die „süßen Mädeln“ ihr ärmliches Dasein fristeten (bestenfalls wie Christine in der „Liebelei“ mit einem Blick auf den Kahlenberg und einer Schubert-Büste belohnt), existierten desgleichen. Und man traf sich als „besserer junger Herr“ mit der armen Freundin „an der Linie“, dem Linienwall (heute der U-Bahn-„Gürtel“ der Stadt), wenn man von seinen Bekannten nicht gesehen werden wollte. Wer es sich leisten konnte, ging wie Anatol im Sacher und in anderen Lokalen ins „Chambre separée“, wo sich die Kellner irgendwann diskret zurück zogen und das Paar nach dem Souper zu anderen Aktivitäten schritt. Man unterhielt sich im Prater, man besuchte die Theater – die einen die Logen, die anderen die Galerie mit den billigen Sitzen. Für die Dichter waren die Kaffeehäuser zweites Zuhause, für die Reichen die Rennbahnen und Luxushotels und –Restaurants.
Allein, wenn Arthur Schnitzler im „Reigen“ zehn Personen auf die Bühne bringt (und jeweils sexuell verschränkt), durchschreitet er die meisten sozialen Schichten der Stadt – und benützt die entsprechenden Schauplätze: unter der Augartenbrücke ebenso wie im Prater, wo man den Radau von den Vergnügungslokalen hört, das Zimmer eines jungen Herren in der zweifellos eleganten väterlichen Wohnung, einen Salon in einer Wohnung, die wohl nur für Seitensprünge benützt wird, das Schlafzimmer eines großbürgerlichen Paares, ein Cabinet particulier im Riedhof, ein „Dichterzimmer“ mit Schreibtisch und Piano, ein Zimmer in einem Gasthof am Lande, das zweifellos pompöse Schlafzimmer einer Schauspielerin und das schäbige Kammerl, in das die Nutte ihre Verehrer mitnimmt, die oft schon so betrunken oder benommen sind, dass sie erst nach dem Erwachen wahrnehmen, wie sie „geslummt“ haben – wenn sie denn ein Graf sind: Die Topographie Wiens in einem einzigen Werk.
Der „geborene“ und „gestorbene“ Wiener
uch Schnitzler hat Wien ohne Frage die Treue gehalten, wobei er innerhalb seines Freundeskreises einer der „geborenen“ Wiener war – und das war gar nicht so häufig, wie man glauben sollte. Vergleichen wir doch die Geburtsorte von Freunden und berühmten Zeitgenossen: So kamen Felix Salten und Theodor Herzl in Budapest zur Welt, Gustav Mahler und Karl Kraus in Böhmen, Sigmund Freud in Mähren. Sie alle kamen erst im Laufe ihrer Jugend, entweder mit den Eltern, die wegen der Erziehung und Zukunft der Söhne in die Kaiserstadt zogen, oder zur Ausbildung nach Wien. Im Falle von Schnitzlers Freunden Hugo von Hofmannsthal, der seine jüdischen Wurzeln am liebsten in Vergessenheit geraten lassen wollte, oder Richard Beer-Hofmann, der im Gegensatz zu Hofmannsthal ein tief überzeugter Jude war, waren schon die Vorfahren nach Wien gekommen. Jedenfalls war die „Kaiserstadt“ das Sammelbecken für die Juden im Habsburger-Reich, Hoffnungsort vor allem im Zeitalter von Kaiser Franz Joseph, der seine schützende Hand über diese Bevölkerungsgruppe hielt. Es war das Jerusalem der Monarchie, für die Juden eine Stadt der „unbegrenzten Möglichkeiten“, trotz des starken Antisemitismus, der sich vor allem rund um den Bürgermeister Karl Lueger sammelte. In einer liberalen Leistungsgesellschaft zählte noch die Leistung – und Schnitzlers Vater war das beste Beispiel dafür.
Dieser Johann Schnitzler kam, noch in einem ungarischen Dorf geboren, 23jährig nach Wien, um dort eine so rasante Karriere als Arzt, Spezialfach Laryngologie, zu machen, dass seine Söhne Arthur und Julius sowie Tochter Gisela schon mit allen Vorzügen einer großbürgerlichen Umgebung auf die Welt kamen.
Und, um nun den großen Sprung zu wagen und die Lebenslinien zu schließen – wer außer Schnitzler „erlebte“ die „Gnade des rechtzeitigen Todes“, wie wir es nennen wollen, und starb denn noch in Wien, unbehelligt von dem Grauen, das durch die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten über die jüdische Bevölkerung kam?
Theodor Herzl, früh durch Krankheit hinweggerafft, starb 1904 (am Semmering),
Gustav Mahler, ausgelaugt von einem Dasein permanenter Überarbeitung, 1911 in Wien,
Peter Altenberg, auch ein gebürtiger Wiener (1859), an seinem exzessiven Leben 1919,
Kollege Felix Dörmann, auch ein gebürtiger Wiener (1870) starb früh 1928 in Wien,
Hugo von Hofmannsthal, durch die Erschütterung nach dem Selbstmord seines Sohnes selbst zu Tode gekommen, 1929.
Arthur Schnitzler, der seinen Teil am österreichischen Antisemitismus reichlich mitbekommen hatte und in seinen letzten Lebensjahrzeiten (besonders seit den „Reigen“-Skandalen in den zwanziger Jahren) immer heftiger angegriffen worden war, starb 1931, noch ohne unmittelbare krasse Gefahr für seine Existenz und sein Leben.
Das Leben von Karl Kraus endete noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1936 in Wien.
Kurz nach dem Anschluss beendete Egon Friedell 1938 durch einen Sprung aus dem Fenster seiner Wohnung in der Währinger Gentzgasse sein Leben, um dem zu entgehen, was ihn erwartete.
Schnitzlers Bruder Julius starb am 29. Juni 1939 und wurde im Grab von Bruder Arthur auf dem Zentralfriedhof begraben. Seine Familie ging in die Emigration, ebenso wie Arthur Schnitzlers Sohn mit Frau und Kind.
In die Emigration getrieben:
Sigmund Freud starb 1939 in London
Schnitzlers Schwager Markus Hajek 1941 in London,
Felix Salten 1945 in Zürich
Richard Beer Hofmann 1945 in New York
Raoul Auernheimer, „gebürtiger Wiener“ (1876), 1948 in Kalifornien.
Kurz, es war für Schnitzler und seine Zeitgenossen jüdischer Abstammung durchaus nicht obligatorisch, unbehelligt durch ihr Leben zu kommen, dieses Leben als Wiener und Österreicher zu führen, sich ihrer Assimilation sicher sein zu können. Schnitzlers Bücher wurden verbrannt, seine „Liebelei“ später von nationalsozialistischen Wissenschaftlern etwa als der jüdisch-tückische Versuch klassifiziert, sich in der Maske des Volksstücks in den ihnen fremden Volkskörper zu schleichen…
Doch so wie Gustav Mahler sich selbst einmal als „eingefleischter Wiener“ bezeichnet hat, mag das wohl auch für Arthur Schnitzler gelten, ohne dass er es je explizit formulieren musste: Er war Wiener, er fühlte sich hier zugehörig, und seine Distanz zu den schlechten Eigenschaften der Wiener ist eine Haltung, an der man stets die besten Wiener erkannt hat.
Der Weg nach Währing –
Die Geschichte eines sozialen Aufstiegs anhand von Adressen –
vom Zweiten in den Ersten in den Neunten in den Achtzehnten…
Erste Station: Der Juden-Bezirk – die Leopoldstadt
Juden, die nach Wien kamen, landeten meist im Zweiten Bezirk, der Leopoldstadt, die dann ein Sammelbecken für die Ärmeren unter ihnen war und blieb, während jene, die es sozial „schafften“, weiter zogen – wie die Schnitzlers. Immerhin war das Haus Jägerzeile 16, ganz in der Nähe des Donaukanals gelegen, keine schlechte Adresse. Interessant übrigens, dass Schnitzlers Autobiographie, die von seinem Sohn posthum unter dem Titel „Jugend in Wien“ herausgebracht wurde, umweglos mit einer topographischen Angabe beginnt, die Schnitzler als „Wiener“ festschreibt:
„Zu Wien in der Praterstraße, damals Jägerzeile geheißen, im dritten Stockwerk des an das Hotel Europe grenzenden Hauses, kam ich am 15. Mai 1862 zur Welt.“
Der nicht weit entfernte Nordbahnhof war jener Eckpunkt von Wien, wo viele aus dem Osten kommenden Juden die Stadt betreten haben – vielleicht Johann Schnitzler, der aus Groß-Kanizsa gebürtig war, vielleicht auch Jahrzehnte vor ihm Dr. Philipp Markbreiter, sein Schwiegervater. Mochte Schnitzler den Großvater mütterlicherseits in seinen Erinnerungen auch als„Sohn oder Enkel eines Wiener Hofjuweliers“ bezeichnen, so hat er das sicherlich geglaubt – vielleicht wurde da in der Familie schon etwas beschönigt. Tatsächlich stammte auch Philipp Markbreiter aus Ungarn, der Ort Ragendorf lag im Wieselburger Komitat.
Wie groß der Sprung aus der ungarischen Provinz in die Kaiserstadt Wien war, schildert Schnitzler in seinen Erinnerungen. Nur einmal, mit fünf oder sechs Jahren, erinnert er sich, sei er nach Groß-Kanizsa, die Heimatstadt des Vaters, gekommen: „Ein Hof mit Hühnern, ein Bretterzaun, in dessen nächster Nähe die Eisenbahn vorbeilief, der in der Ferne verhallende Pfiff einer Lokomotive…“ Immerhin zeugt es von der Willensstärke seines Vaters, eine Welt, die wohl das Schicksal der meisten hier Geborenen ungefragt bestimmte, so entschlossen hinter sich zu lassen und zur großen Karriere in die große Stadt aufzubrechen.
Jedenfalls leitet sich Schnitzlers Herkunft väterlicherseits aus dieser ungarischen Stadt her. Und auch Amalie Schey, die Frau, die Philipp Markbreiter heiratete, kam aus Westungarn, aus Guens (der deutsche Name der Stadt Köszeg). Die Familie Schey hatte viele „Zweige“, wie es bei den kinderreichen jüdischen „Dynastien“ möglich war (man denke an die Rothschilds). Die ganz reichen, geadelten Verwandten, die Schey von Koromla (die übrigens auch mit den Rothschilds verwandt waren), hatten dann eine Adresse wie jenes Palais Schey (am Opernring 10, hinter dem Goethe-Denkmal), die ein „Dichter“ wie Schnitzler lebenslang nicht hätte verdienen können. Da musste man Bankiers, Magnaten und Industrielle sein wie die Scheys.
Sie kann man ebenso als Beispiele für das arrivierte Judentum der Monarchie nehmen wie die „Professoren“ – der Arzt-Großvater, der Arzt-Vater, der Arzt-Bruder, der Arzt-Schwager, die Arthur Schnitzler umgaben, der selbst Arzt nur aus Tradition, nicht aus Neigung geworden war und den Beruf gleich nach dem Tod des Vaters, in dessen Fußstapfen als Laryngologe er mehr nolens als volens getreten war, hinter sich ließ.
Die Jägerzeile, die in Schnitzlers Geburtsjahr 1862 in die Praterstraße „aufging“, war durchaus eine noble Gegend, nicht jener Teil der Leopoldstadt, der seit langer Zeit die Bezeichnung „Mazzes Insel“ trug und wo die ärmsten Juden aus den östlichen Gebieten der Monarchie sich zuerst niederließen, oft bei Verwandten, voll Hoffnung auf eine neue, bessere Existenz. Den orthodoxen Juden in ihrer unverwechselbaren Kleidung und Haltung wird Schnitzler damals schon begegnet sein (öfter als später in seinem Leben, da sie sich vor allem in der Leopoldstadt aufhielten), aber er erinnert sich in seiner Autobiographie auch an die glanzvollen Pferderennen und Blumencorsos, kurz an die „große Welt“, die via Praterstraße in den Prater strömte.
Und die Großeltern mütterlicherseits, die ja nun viel länger in Wien waren als der Vater, wohnten auch noch in der Leopoldstadt, tatsächlich nur wenige Schritte von seinem Geburtshaus entfernt. Dort stand das Carltheater, das schon frühzeitig – nämlich 1847, als von der „Ringstraßenzeit“ noch keine Idee war – wie ein protziger Ringstraßenbau ausgeführt worden war, denn seine Architekten hießen August Sicard von Sicardsburg und Eduard van der Nüll, die späteren unglückseligen Erbauer der Hofoper. Es war, als Nachfolgebau des schlichten „Leopoldstädter Theaters“, in dem Raimund gewirkt hatte, eine Stätte der Triumphe von Johann Nestroy gewesen – Nestroy, der am 25. Mai 1862 in Graz starb, zehn Tage, nachdem Arthur Schnitzler geboren war. Hier, in der nahe gelegenen Johann Nepomuk-Kirche hat man Nestroy eingesegnet, und hier, in dem Theater, in dem auch er gewohnt hatte, lebten die Markbreiter-Großeltern in einer der Wohnungen, die – völlig ungewöhnlich und undenkbar für uns, in einem Theatergebäude zu wohnen! – sich darin befanden.
Dass der zwei- oder dreijährige Arthur Schnitzler aus dem Fenster der großelterlichen Wohnung einen Operngucker auf die Straße warf, hat man ihm später als ein symbolisches Ereignis für eine künftige Theaterkarriere berichtet. Tatsächlich sah man von der Wohnung der Großeltern auf ein Glasdach hinunter, das einen Hof bedeckte, in dem die Schauspieler, von ihren Garderoben kommend, herumwanderten. Und dass Klein-Arthur einen Schauspieler in Altwiener Tracht, mit einer Butte am Rücken, gesehen haben will, hat er zumindest in seinen Erinnerungen geschrieben – das könnte wohl ein „Wurzel“ gewesen sein, Raimunds Bauer als Millionär in seiner Eigenschaft als „Aschenmann“… auch die Umwelt bestimmt das Bewusstsein. Schon zu Nestroys Zeiten hat man im Carl-Theater viel Offenbach gespielt: Hier sah der kleine Arthur mit „Orpheus in der Unterwelt“ seine erste Operette.
Als die Großeltern übersiedelten, blieben sie in der Leopoldstadt, wanderten nur ein paar Häuser weiter in die Circusgasse, die es heute noch gibt, in das Haus Nr.2. Auch „die meisten anderen Verwandten wohnten ganz in der Nähe, im gleichen Bezirk“, berichtet Schnitzler.
Nur seine Eltern hatten die Wohnung in der Praterstaße „bald verlassen“ und zogen, als Schnitzler vier oder fünf Jahre alt war, auf die Schottenbastei: Ein Knabe, Emil benannt, wurde zwei Jahre nach Schnitzler geboren und starb wieder, die Geschwister Julius und Gisela kamen 1865 und 1867 zur Welt, also zu jener Zeit, als man sich in Richtung Innere Stadt bewegte.
Zweite Station: Das Nobelviertel – die Innere Stadt
Die Schottenbastei, keine Bastei mehr, sondern „nur“ eine Straße, die auf die Mölker Bastei stieß (der man das ehemalige Bastei-Dasein bis heute ansieht), nahm die Familie Schnitzler nur vorübergehend auf.
„Etwa um 1868“, Schnitzler war also sechs Jahre alt, setzt er die Übersiedlung in die Giselastraße 11 an, die dann 1919 nach dem Klavierfabrikanten Ludwig Bösendorfer benannt wurde und noch heute so, nämlich Bösendorferstraße, heißt. Es handelte sich bei dem Haus um einen jener Ringstraßenbauten, deren Vorderseite auf die neue Prachtstraße hinausging, die Rückseite auf die Giselastraße. Wobei ein ganz kurzer Exkurs zu dem Namen erlaubt sei: Die Giselastraße hieß damals natürlich nach der ungarischen Königin des 10. Jahrhunderts, die eine gebürtige Bayernprinzessin gewesen war. Aber es war wohl kein Zufall, dass die am 12. Juli 1856 geborene Tochter von Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth Gisela hieß – und dass die Schnitzlers ihre einzige, elf Jahre später geborene Tochter so wie diese Erzherzogin nannten. Assimilation bedeutete auch, sich von Vornamen zu verabschieden, die noch als spezifisch jüdisch galten – keiner der Söhne (Arthur, der verstorbene Emil, Julius) bekam einen Namen, der (wie es Moses, Nathan, Isaak, Salomon oder auch Moritz getan hätte) auf ihre Herkunft deutete.
Es war ein Teil des Aufstiegs des Judentums, sich von seiner Herkunft abzukoppeln, so wie die Adressen zeigten, dass man nicht mehr im „Judenviertel“ daheim war. Das Haus in der Giselastraße gab Professor Johann Schnitzler für seine Privatpraxis die Nobeladresse Kärntnerring 12 auf der „Vorderseite“, während man auf der rückwärtigen Giselastraße 11 direkt dem eben eröffnete Künstlerhaus gegenüber lag und schräg vis à vis dann, per Adresse Giselastraße 12, der von Theophil Hansen erbaute und 1870 eröffnete Musikverein lag (das Gebäude brannte gleich nach seiner Eröffnung, was dem siebenjährigen Arthur natürlich lebhaft in Erinnerung blieb).
Auch fast gegenüber lag das Nobelgebäude am Kärntnerring 16, damals noch das Privatpalais des Herzogs Philipp von Württemberg. Es verwandelte sich 1873 anlässlich der Weltausstellung zum Hotel Imperial, als welches es noch heute seine imperiale Würde verstrahlt. Aber zu diesem Zeitpunkt waren die Schnitzlers schon wieder weiter gezogen – blieben aber immer im Ersten Bezirk, bei den Nobeladressen.
Burgring 1 – dort, wo Burgring und Opernring zusammen stoßen, wuchsen die machtvollen Ringstraßenbauten. Eine „schöne Wohnung“, wie Schnitzler sich erinnerte, „gegenüber dem so genannten Kaisergarten, in der wir unter allmäliger Ausbreitung über das ganze Stockwerk bis zum Tode des Vaters 1893 verblieben.“ Es war die ideale Adresse für den Papa: Nun war das Burgtheater ebenso nahe wie das Opernhaus, und Sänger wie Schauspieler benötigten die Dienste des mittlerweile weit über die Stadt hinaus bekannten Larynglogen Dr. Schnitzler, der für seinen einfühlsamen Umgang mit nervösen Künstlerpersönlichkeiten bekannt war.
Arthur Schnitzler allerdings wuchs heran und drängte aus der elterlichen Wohnung heraus. Der Medizinstudent, der einen kontrollierenden und kritischen Vater nicht immer im Nacken haben wollte, ist zweifellos ausgezogen – schließlich waren ein hoffnungsvolles Literatenleben und schier unzählige Mäderlgeschichten möglichst nicht unter den Augen der Eltern abzuhandeln. Allerdings verzeichnet der „Lehmann“, Wiens offizielles Adressenverzeichnis (das allerdings meist erst nach einem, oft erst nach zwei Jahren auf Änderungen reagiert) Arthur Schnitzler erst 1888 mit der eigenständigen Adresse „Alserstraße 4“.
Da war er schon seit einiger Zeit (er hatte am 30. Mai 1885 zum „Doktor der gesamten Heilkunde“ promoviert) gewissermaßen selbständig. Und so findet sich seine Adresse innerhalb des Allgemeinen Krankenhauses. Man war mitten im Ärzteviertel – in der Alserstraße waren auch Theodor
Billroth oder Johann von Oppolzer, hochrangige Kapazitäten ihrer Epoche, anzufinden.
Dann wohnte Schnitzler durch Zufall ab 3. Dezember 1889 wieder in der Giselastraße 11, wie er fast mit Erstaunen in seiner Autobiographie feststellte – „dasselbe Haus, sogar, irre ich nicht, in die gleichen Zimmer, von denen ich einige im Beginn der neunziger Jahre als junger Arzt wieder bewohnen sollte“.
Am 15. Oktober 1892 übersiedelte er in die Grillparzerstraße 7, ein Neorenaissancegebäude. Es sind die Jahre, in denen er rasend in die hübsche junge Schauspielerin Marie Glümer verliebt ist und sich und ihr durch seine Eifersucht die Hölle bereitet…
Dritte Station: Das Ärzteviertel – der Alsergrund
Mit dem Quartier in der Alserstraße hatte Schnitzler schon den Ersten Bezirk (und das beengende Elternhaus) verlassen, wenn er sich auch noch nicht weit davon entfernte. Nach dem Tod des Vaters, als Schnitzler längst seine eigenen Wohnungen hatte, änderte sich die Situation. Die Mutter konnte, obwohl ihr Lebensstandard auch für den Rest ihrer Jahre nicht in Frage stand, natürlich das Stockwerk in der Burggasse 1 nicht halten. Tochter Gisela war bereits verheiratet, Sohn Julius verlobt, so blieb Arthur als jener Sohn, der die Verpflichtung, sich um die Mutter zu kümmern, auch durch räumliche Nähe erfüllen konnte.
Es ist bemerkenswert, dass er wenige Tage nach dem Tod des Vaters in seinem Tagebuch notierte, er habe am „Burgring“ geschlafen – vermutlich aus keinem anderen Grund, als die Mutter in dieser Situation nicht allein zu lassen. Zweifellos wurden nun Überlegungen über Übersiedlungen angestellt. Es dauerte allerdings noch eine Weile.
Die Mutter ist in der Obhut der Kinder, Tochter Gisela verreist mit ihr, man soupiert mit ihr in Lokalen, es gibt keine Vereinsamung. Und am 14. November 1893 notiert Schnitzler lapidar: „Umzug“. Schwer vorstellbar, dass ein so wichtiger Schritt im Leben dermaßen unkommentiert bleibt – am 15. November heißt es „Erster Tag Frankgasse“, am 16. „Räumereien“, am 18. November „Erste Patientin in Frankgasse“, einen ausführlicheren Kommentar ist ihm dieser örtlich neue Abschnitt seines Lebens nicht wert.
Wiens Adressbuch, der „Lehmann“, verzeichnet (allerdings mit Verspätung, erst ab 1895) sowohl den Dr. med. Arthur Schnitzler wie auch seine Mutter, Louise, als Regierungsratswitwe und Professorenwitwe doppelt gekennzeichnet, getrennt unter der Adresse „Frankgasse 1“, (ein großes, vielstöckiges Ringstraßengebäude hinter der Votivkirche). Aber es bleibt die Frage offen, ob Mutter und Sohn wirklich zwei getrennte Wohnungen bezogen oder ob einfach beide in einer Adresse gemeldet waren. Diese „Louise Schnitzler“ hatte es, solange ihr Mann lebte, im Adressbuch nie „gegeben“. Für die Zeit, die sie nach Johann Schnitzlers Tod noch am Burgring wohnte, mutierte sie gewissermaßen zur eigenständigen Persönlichkeit – zumindest als „Gemeldete“.
Wir können nicht mehr entscheiden, ob Mutter und Sohn in einer Wohnung lebten, was zumindest für ihn ein evidenter Vorzug gewesen wäre – denn die Mama, die Professorenwitwe, hatte jedenfalls eine Köchin für die Mahlzeiten und ein Stubenmädchen für Garderobe und Handreichungen aller Art, möglicherweise noch mehr Personal, das sich der junge Arzt (trotz der Erbschaft von Seiten des Vaters) vermutlich nicht leisten konnte. Gewiss konnte der Sohn die Angestellten der Mutter auch in einer anderen Wohnung im Haus in Anspruch nehmen, und zu Mahlzeiten und gemeinsamem Klavierspiel fand er sich ohnedies bei ihr ein – aber von einem ökonomischen Standpunkt wären zwei getrennte Wohnungen vermutlich eine ungünstigere Lösung gewesen. Wie dem auch sei – es wird kaum zu eruieren sein, ob Schnitzler ab 1893 in der Frankgasse 1 bei, mit oder neben (bzw. ober oder unter) seiner Mutter wohnte.
Aber etwas riss nie ab, auch als dann durch den Umzug in die Spöttelgasse die wahre Entfernung zwischen Mutter und Sohn (der nie ein Mutter-Sohn war) stattfand: Sie spielten vierhändig Klavier, und das, wie man annehmen kann, mit großer Meisterschaft. Schnitzlers musikalisches Talent, das auf seinen Sohn Heinrich (gleichfalls ein hervorragender Klavierspieler, wenn auch nicht so großartig wie sein Freund Rudolf Serkin) und seinen Enkel Michael (der eine große Karriere als Orchester- und Kammermusiker machte) übergegangen war, kam von Louise Schnitzler. Und das gemeinsame Spiel am Klavier schmiedete sie und den Sohn zusammen, schien eine Art Bedürfnis zu sein: Es ist bewundernswert, wie die beiden vor keiner Wagner-Oper und keiner Mahler-Symphonie Halt machten, wie kein Stück Kammermusik ihnen zu schwierig war, welch ungeheure Kenntnis des klassischen Repertoire sie mitbrachten. Schnitzler hat denn auch in den Klavierauszügen, von denen sich so mancher noch in Besitz der Familie (seines Enkels Michael Schnitzler) befindet, das Datum und den Partner notiert, mit dem er das Werk gespielt hat – das konnte neben der Mutter später auch (wenn auch seltener) Olga, dann Sohn Heini oder ein Freund wie der Musiker Victor Zuckerkandl sein.
Schnitzler nahm nun hier, im Ärzteviertel (Bruder Julius wohnte in der Schwarzspanierstraße 6, gerade ein paar Schritte entfernt), seine Privatpraxis auf. Allerdings nur für kurze Zeit: Der Vater war jene unübersehbare Macht und auch Hürde im Leben des Sohnes gewesen, die es für ihn unmöglich gemacht hätte, den Arztberuf hinter sich zu lassen. Nun, da Johann Schnitzler tot war und Arthur sich, jetzt 31jährig, mehr und mehr als Schriftsteller, als Dichter verstand, der beabsichtigte, vom Schreiben zu leben, da ließ er diese Praxis langsam auslaufen (ohne dass man einen exakten Zeitpunkt dafür angeben könnte). Dennoch lebte er die nächsten zehn Jahre hier. Von der Frankgasse waren es übrigens nur wenige Schritte bergab zu jener Adresse, wo Sigmund Freud und seine Familie im September 1891 eingezogen waren, „Berggasse 19“ – was zu einer der legendärsten Adressen Wiens werden sollte, bis zum heutigen Tag.
Es war übrigens keiner der Ärzte dieser Zeit, der in der Frankgasse Arthur Schnitzlers unmittelbarer Nachbar sein sollte, sondern Max Burckhard, damals schon Direktor des k.k. Hofburgtheaters und als solcher für den Dichter von allergrößter Bedeutung, da er es war, der ihm die Tore dieser wichtigsten Bühne des deutschen Sprachraums öffnen sollte – und das nur zwei Jahre später.
1893 war für Schnitzler nicht nur durch den Tod des Vaters und den Umzug ein wichtigstes Jahr – im Dezember 1893 stand am nahe gelegenen Deutschen Volkstheater die erste Uraufführung eines abendfüllenden Stücks aus seiner Feder in einem großen Theater Wiens an, und als Hauptdarstellerin von „Das Märchen“ stürmte mit Adele Sandrock die erste Diva in das Leben des Dichters, das bis dahin mit wenigen Ausnahmen (der großen „Seelen“-Liebe Olga Waissnix) vor allem von „süßen Mädeln“ erfüllt gewesen war…
Wer wohnte wo 1902 in Wien?
Bis Schnitzler 1903 nach Währing zog, blieb er also in der Frankgasse. Es gibt aus dem Jahre 1902 ein bemerkenswertes Nachschlagewerk, ein schmales, aber mit 620 Seiten recht gewichtiges Buch, das sich „Deutsch-österreichisches Künstler- und Schriftsteller-Lexikon“ nennt, Herausgegeben von Herm. C. Kosel, erschienen Wien 1902, VI. Gumpendorferstraße 87. Geordnet ist es nach „Architekten“, „Bildende Künstler“, „Darstellende Künstler“, „Schriftsteller, Schriftstellerinnen und Journalisten“ sowie „Tondichter und Musiker“ – kurz, ein ganz wichtiges Who is Who dieses geistigen „Wien um 1900“. Für die Nachwelt ist dieses Verzeichnis auch deshalb interessant, weil hier Leute, deren Namen niemand mehr kennt, in aller Ausführlichkeit spaltenweise besprochen werden, und andere, die weit über ihren Tod hinaus den Sprung ins allgemeine Bewusstsein geschafft haben, in kurzen Worten abgefertigt werden. Und bei jedem Namen steht die damalige Wiener Adresse…
In diesem Buch also finden wir nicht nur auf Seite 452 „SCHNITZLER, Arthur, Dr. med., IX. Frankgasse 1“, sondern auch zahlreiche seiner dichtenden Zeitgenossen, sowohl seine Freunde und Bekannten wie auch jene, die nur gelegentlich seine Wege kreuzten.
Will man sich den Spaß machen, ein wenig zu blättern, so liest sich das in der dicksten Rubrik, jener der Schriftsteller, so:
Altenberg, Peter, IX., Währingerstraße 3
Auernheimer, Raoul, IV., Starhemberggasse 26
Bahr, Hermann, XIII., Veitlissengasse 5a
Beer-Hofmann, Richard, I., Wollzeile 15
Benedikt, Moriz (der Herausgeber der „Neuen Freien Presse“), IV., Wohllebengasse 6
Burckhard, Max, IX., Frankgasse 1
Dörmann, Felix, I., Rathausstraße 8
Elbogen, Friedrich (Jurist, Schriftsteller, Freund von Adele Sandrock), I., Schottenring 14
Herzl, Theodor, XVIII., Karl Ludwig Straße 50
Hofmannsthal, Hugo von, III., Salesianergasse 12
Kraus, Karl, I., Elisabethstraße 4
Lothar, Rudolf, XIII., St. Veitgasse 3
Pick, Rudolf, I., Jasomirgottstraße 6
Popper, Josef, IX., Müllnergasse 3
Salten, Felix, VIII., Kochgasse 32
Schwarzkopf, Gustav, I., Tiefer Graben 23
Specht, Richard (der später eine der ersten Biographien über Schnitzler schreiben würde), IX., Kolingasse 19
Uhl, Friedrich (eine zeitlang August Strindbergs Schwiegervater), VII., Burggasse 72
Es sind Menschen, die vom Schreiben leben können, die meist dort wohnen, was man auch heute noch als „gute Adresse“ bezeichnet. Interessant, dass später nicht nur Schnitzler, sondern auch einige seiner Weggefährten, Villenbesitzer sein würden und mehr – Hugo von Hofmannsthal zog gar in das so genannte „Fuchs Schlössl“ in der Ketzergasse 471 in Rodaun, ein Barockbau von 1724, den Maria Theresia ihrer Aja, der Gräfin Fuchs, geschenkt hatte. Da allgemein erklärt wird, Hofmannsthal habe sich schon 1901, frisch verheiratet, hier eingemietet, verzeichnet das Lexikon noch eine alte Adresse.
Ebenso für Hermann Bahr, wenngleich dessen Hietzinger Adresse „Veitlissengasse“ direkt an die Winzerstraße anstößt, wo er sich 1899/1900 von dem Jugendstil-Architekten Joseph Maria Olbrich eine Villa hatte errichten lassen, in der er mit seiner späteren Gattin, der Hofopersängerin Anna von Mildenburg, bis 1912 lebte, als die beiden dann ihren Wohnsitz in Salzburg nahmen. Schnitzler war des öfteren bei Bahr zu Gast. Es gibt Tage wie im Juni 1902, da notiert Schnitzler im Tagebuch nacheinander Besuche bei Hofmannsthal in Rodaun und bei Bahr in Ober St.Veit (was auch heute noch eine ganz schöne Entfernung darstellt).
Richard Beer-Hofmann schließlich, jener Freund, den Schnitzler wohl am aufrichtigsten liebte und den er dennoch so sehr um dessen finanzielle Unabhängigkeit beneidete, konnte es sich leisten, sich von Josef Hoffmann in Währing, Ecke Hasenauerstraße 59 / Meridianplatz, eine Villa bauen zu lassen, die 1970 völlig sinnlos abgerissen wurde, ein großer Verlust nicht nur für den Bezirk, sondern für die Architekturgeschichte Wiens.
Unter den Schauspielern, die in dem Verzeichnis von 1902 aufscheinen, findet man übrigens auch Burgschauspielerin Hewig Bleibtreu-Römpler mit der Adresse XVIII., Sternwartestraße 71. Das sollte Schnitzlers übernächste und letzte Adresse werden.
Rund um die Stadt
In den zehn Jahren zwischen 1893 und 1903, die er in der Nachbarschaft seiner Mutter in der Frankgasse verbrachte, wurde aus dem verbummelten Arzt Dr. Arthur Schnitzler endgültig der Schriftsteller Arthur Schnitzler. Seine „Anatol“-Einakter waren schon geschrieben, die sein Wesen dieser Jahre umrissen (allerdings mit einiger dichterischer Reife und ironischer Distanz gesehen), desgleichen kleine Prosa. Nun entstanden die Meisterwerke – die „Liebelei“, die Burckhard im Hofburgtheater uraufführte, die Novelle „Sterben“, eine von Schnitzlers dichtesten Arbeiten.
Und stärker denn je zog es Schnitzler in die Natur. Er gehörte zu jenen Juden (sie waren zahlreich!), die den Wiener Spruch „Ein Jud’ gehört ins Kaffeehaus“ unterliefen, indem ihnen die Natur ebenso wichtig war wie die verrauchte Welt des „nicht daheim und doch nicht an der frischen Luft“. In seiner Jugend war ihm die Umgebung Wiens von der Seite des Vaters eher aufgezwungen worden und in nicht sonderlich guter Erinnerung, wie er in „Jugend in Wien“ berichtete: Denn der Vater nahm an schönen Frühlings- und Sommerabenden die Familie zu Patienten mit, die ihre Villen in den Vorstädten oder rings um die Stadt hatten – und da hieß es in Schönbrunn, Hietzing, Dornbach oder Kaltenleutgeben stundenlang warten, bis der Herr Professor mit seinem Hausbesuch fertig war. Weder die rumpelnden Fiaker noch die vorstädtischen Wirtsgärten haben Arthur als Jungen begeistert.
Dennoch hat sich die Wienerische Gewohnheit der „Landpartie“, die im Biedermeier in so hoher Blüte stand, nie ganz verloren. Die Rede ist nun nicht von den Sommerfrischen in Baden, Vöslau, im Salzkammergut, am Semmering oder in Südtirol, sondern von jenen Ausflügen in die unmittelbare Umgebung Wiens, die in Schnitzlers Leben eine so große Rolle spielen sollten. Als junger Arzt hatte er zwischen Spitalstätigkeit, Mädeln, Kaffeehaus, Lesen und Schreiben, Besuchen und Theater dafür noch wenig Zeit. „Trendeln“ war der Ausdruck, den er selbst für seine damalige Art des Lebens fand.
1893, als sich nach dem Tod des Vaters so einiges ändert, bekommen auch die Landpartien eine andere Qualität durch eine Mode der Zeit, der sich Schnitzler mit Begeisterung hingibt: dem „Bicycle“. Ist heutzutage Radfahren eine durchaus glanzlose Fortbewegungsmöglichkeit im Alltag, so bedeuteten diese zwei Räder mit einem Sattel dazwischen in einer Welt, die nur Fiaker und eventuell Dampftramwayen kannte, die es seit 1883 gab, eine neue, individuelle Freiheit. Die elektrische Straßenbahn (von den Wienern und auch von Schnitzler dann „die Elektrische“ genannt,), die den Verkehr flüssiger machte, gab es erstmals 1897. Kurz, das Fahrrad, das man damals noch nicht so nannte – „Bicycle“, „Bic“, auch „Velocipede“ – brachte ein neues Lebensgefühl, übrigens auch für die Frauen, die sich diesen Sport von Anfang an mit eroberten.
Die neue Mode war allerdings noch eine Sache für die Reichen (und Schnitzler war zumindest wohlhabend genug, sich später – 1897 – sogar aus London ein neues Rad zu bestellen), und es galt jedenfalls für sehr „chic“. Kurz, Schnitzler erwähnte am 13. Juni 1893 das Wort „Bicycle“ erstmals in seinem Tagebuch, als der 31jährige eine erste Lektion nahm, und er absolvierte offenbar einen regelrechten Fahrkurs, denn laut Tagebuch bestand er am 27. Juli die Prüfung. Er gehörte auch einem der Clubs an, die aus dem Boden wuchsen (es war die Radfahrer-Union „Vorwärts“), er machte neben individuellen Ausflügen mit Freunden auch Touren „mit Clubmitgliedern“ (Gloggnitz – Seebenstein – Neustadt ist keine kleine Sache), und er unterwarf sich selbstverständlich der vorgeschriebenen „Mode“ – samt der „Bic. Peitsche“, die dazugehörte (um Passanten und Hunde zu vertreiben…). Kurz, Schnitzler, der sich selbst eingestanden hatte, in der Jugend durch eine „Dandy“-Periode gegangen zu sein, ist diesem Dandytum nicht fremd, wenn man ihn etwa auf der gestellten Studio-Fotografie mit Fahrrad aus dem Jahre 1910 betrachtet: Mütze und Stutzen entsprachen zweifellos den Vorschriften.
Auch seine Geliebte Marie Glümer ließ sich mit Fahrrad fotografieren, das Radeln der Adele Sandrock ist verbürgt, Schnitzler radelte mit Freunden wie Felix Salten, und in seinen Briefen an Richard Beer-Hofmann „missioniert“ er geradezu für das Radfahren, bis auch dieser Freund sich dem neuen Sport und der damit verbundenen Bewegungsfreiheit anschloss. Man nahm das Rad per Bahn in den Sommeraufenthalt mit und machte dann Radtouren.
Auf einer späteren Aufnahme mit Schnappschusscharakter, die Schnitzler – schon ein um die Taille stattlicher Herr in den mittleren Jahren – 1905 auf einer Mittelmeerreise „im adriatischen Küstenland“ zeigt, lehnt auch ein Fahrrad an der Wand, was sicher kein Zufall ist. Schnitzler, der sich Zeit seines Lebens nie ein Auto kaufte, blieb dem „Rad“, wie es später unspektakulärer und selbstverständlicher genannt wurde, treu.
Es verfolgte ihn bis ins Alter sogar in seiner Träume – da radelte der 66jährige „am Ring, sehr schnell und geschickt“, wie er am 22. August 1928 notierte, träumend auf der Suche nach der verlorenen Zeit, als dies noch in Wirklichkeit möglich war.
Dass das Radfahren allerdings damals wie heute keinesfalls ungefährlich war, beweist ein Brief, den Schnitzler im September 1922 an das Bezirksgericht Fünfhaus richtete, wo er einen Unfall schilderte, bei dem zwei Radfahrer zwischen Pötzleinsdorf und Neuwaldegg ineinander gekracht waren und Schnitzler ärztliche Hilfe leistete…
Doch dann kam die Zeit, da Schnitzler sich rund um Wien, vor allem im „Wienerwald“-Gürtel der Stadt, aber auch im Süden und überhaupt in der Peripherie, nicht nur zum Vergnügen umtun konnte. Es waren nicht die unbeschwerten „Bicycle“-Ausflüge allein – nun hatte er es mit der Notwendigkeit der Wohnungssuche der anderen Art zu tun.
Nach dem Ende seiner desaströsen Beziehungen sowohl zu Marie Glümer wie zu Adele Sandrock vertiefte sich das Verhältnis Schnitzlers zu der jungen Marie Reinhard. Diese brave, nicht jüdische Bürgerliche stellte ihn erstmals vor ein Problem, mit dem sich mancher junge Mann damals konfrontiert sah: Sie wurde schwanger. Und wenn man nicht heiraten wollte und die Frau nicht abtrieb, sondern die Geburt des Kindes auf sich nahm, dann bedeutete dies, die werdende Mutter auf eine fiktive „Reise“ zu schicken, tatsächlich aber am Stadtrand von Wien irgendwo (auf Kosten des wohlhabenden jungen Vaters) zu verstecken. Das Kind gab man nach der Geburt zu einfachen Leuten „in Pflege“, und damit erledigte sich das Problem für den Vater zumeist, während sich die unverheiratete Mutter in Hinblick auf ihre eigenen Zukunftsperspektiven das Leben auch nicht mit dem „Bankert“ belasten konnte… Schnitzler hat die Problematik später in seinem Roman „Therese“ großartig geschildert.
Arthur Schnitzler lernte Marie Reinhard im Juli 1894 kennen, noch als Patientin in seiner auslaufenden Praxis als Hals-, Nasen-, Ohrenarzt: Sie war eine jener hoffnungsvollen Sängerinnen, die es vermutlich nie auf eine Bühne geschafft hätte. Im Gegensatz zu den meisten „süßen Mädeln“, die im Handstreich zu haben waren, wurde Marie Reinhard erst im März 1895 seine Geliebte. Anfang des Jahres 1897 wurde sie schwanger. Das stellte Schnitzler vor die Aufgabe, ein Quartier außerhalb von Wien zu suchen, aber nicht zu weit, dass man es bequem erreichen konnte, per Fahrrad oder per Bahn. Im Juli 1897 notierte Schnitzler in seinem Tagebuch Wohnungssuche in Nußdorf, Penzing, Döbling, Mauer, Perchtoldsdorf, und wieder Döbling, nicht ohne die „Hin- und Herfahrten“ zu erwähnten, die offenbar doch eine ziemliche Belastung darstellten.
Schließlich brachte er Marie Reinhard in Mödling unter, wo sich eine der großen Tragödien in ihrer beider Leben abspielte: Das Kind kam tot zur Welt. Marie Reinhard starb zwei Jahre später, wenige Jahre nach ihrem 28. Geburtstag, innerhalb von drei Tagen an einer Sepsis nach einem Blinddarmdurchbruch.
Vier Monate später, im Juli 1899, trat die nächste Frau in Schnitzlers Leben – Olga Gussmann kam nicht als Patientin, sondern als „Fan“ in die Sprechstunde in der Frankgasse. Eine angehende Schauspielerin, die sich quasi aus der Distanz in den um 20 Jahre älteren Dichter verliebt hatte. Die darauf folgende Beziehung wurde von ihr mit noch mehr Energie und Entschlossenheit betrieben als von ihm. Wenn er, was oft vorkommt, auf Reisen ist, schreibt er zahlreiche Briefe an Olga, die damals im 9. Bezirk, in der Grüne Thorgasse 17 wohnt.
Es kann und soll nicht darum gehen, das Privatleben eines Dichters voyeuristisch in allen Details zu verfolgen, aber die Details bestimmen die Topographie, um die es hier geht. Parallel dazu, dass Schnitzlers Ruhm skandalbehaftet dadurch wächst, dass er 1900 mit seiner Novelle „Leutnant Gustl“ geradezu berüchtigt wird, weil die Armee des Kaiserreichs (eine der Stützen der Monarchie und eines ihrer mächtigsten Elemente dazu) sich von Schnitzler angegriffen fühlt – abgesehen davon wiederholt sich ein Szenarium: Olga Gussmann wird schwanger wie vor ihr Marie Reinhard, und wieder ist Schnitzler noch nicht bereit für Ehe und Bindung. So geht er zu Beginn des Jahres 1902 wieder auf Wohnungssuche „außerhalb“, wo ein Kind zur Welt kommen kann, ohne dass man der ledigen Mutter im Spital die peinlichen Fragen stellt.
Früh schon nimmt er eine Wohnung in der Brühl, wo Olga auch eine Kinderfrau zur Seite gestellt bekommt. Dann ist das Schicksal diesmal gnädiger, und Olga Gussmann bringt mit Hilfe von Schnitzlers Freund und angeheiratetem Cousin Dr. Louis Mandl am 9. August 1902 den Sohn Heinrich zur Welt, lebenslang „Heini“ genannt. Er ist einer jener Menschen, den Schnitzler uneingeschränkt lieben wird, ein Gefühl, das auf Gegenseitigkeit beruht. Von diesem Heinrich Schnitzler konnte man nach seinem Tode sagen, er habe dem Vater Ehre gemacht, als sei es ihm Lebensaufgabe gewesen.
Das Kind wurde nicht weggegeben, Schnitzler bekannte sich dazu, was bedeutete, dass er Olga und Heini über kurz oder lang in sein Leben integrieren musste. Auch die Frauen seiner Familie – seine Mutter, seine Schwester Gisela, seine Schwägerin Helene („welche sehr zum Heiraten zuredet“) – waren „bürgerlich“ genug, um geordnete Verhältnisse zu postulieren. Als Olga und Heini Ende September aus der Brühl kamen, wohnten sie in der Gentzgasse 110. Schnitzler zog ihnen vom Alsergrund nach Währing nach…
Währing zum Ersten: die Spöttelgasse
Im Jahre 1903 kommt es in Schnitzlers Leben ausreichend zu Veränderungen, die auch räumliche Konsequenzen nach sich ziehen. Zwar ist er gar nicht sicher, dass Olga auf die Dauer die richtige Gefährtin für ihn ist, sie ist möglicherweise zu stark und selbstbezogen, aber genau diese Eigenschaften treiben die Beziehung in die von ihr gewünschte Richtung. Sie möchte heiraten, Frau Schnitzler sein und mit Mann und Kind zusammen leben, mit allen sozialen Rechten und Vorzügen, die diese Stellung mit sich bringt. Man kann es ihr nicht verübeln, und es gelingt ihr. Sie überwindet seinen „Junggesellenegoismus“, der so gar kein Bedürfnis nach Bindung hegt. Aber die Heiratsgespräche, werden drückend, und Schnitzler notiert offensichtlich auf Suche für eine gemeinsame Wohnung etwa eine Besichtigung in Pötzleinsdorf.
Möglicherweise ist Schwägerin Helene hilfreich dabei, dass Schnitzler am 22. April 1903 notieren kann, es sei eine „Wohnung Spöttelg. in Aussicht“, und tatsächlich konversiert er mit dem Hausherrn, einem Baumeister, bald ist der Maler in der Spöttelgasse, und es gibt kein Zurück mehr, so sehr sich Schnitzler innerlich auch sträubt:
„Dumme Praeoccupation durch Wohnung; unvermeidliche und doch unerlaubte Geldausgaben; unsichre Zukunft in jeder Hinsicht – besonders Privatverhältnisse.“
Dergleichen wird sich als „ewiger Gesang“ viele, viele Jahre lang durch sein Tagebuch ziehen. Doch am 12. Mai, wenige Tage vor seinem 41. Geburtstag, unterzeichnete Schnitzler den „Contract“ für die Wohnung.
Wie sehr Olga von Anfang an Unruhe in Schnitzlers Leben brachte und wie sich das nie ändern würde, kann die Nachwelt mühelos aus den Tagebuchnotizen des Dichters ablesen. Ihr Wunsch nach Selbstverwirklichung als Künstlerin äußerte sich in steten Ankündigungen (oder Drohungen), eine Karriere als Schauspielerin oder Sängerin einzuschlagen, also ihn gewissermaßen zu verlassen. Möglicherweise wollte sie damit noch mehr Druck ausüben, Schnitzler zu einer Ehe zu zwingen.
Wohin Olga auch in seinem Freundeskreis blickte, waren Paare:
Am 14. Mai 1898 hatten Richard Beer-Hofmann und Paula Lissy geheiratet, übrigens auch erst nach der Geburt ihres ersten Kindes (Miriam war 1897 zur Welt gekommen), Schnitzler und Leo Vanjung waren Trauzeugen im Tempel in der Florianigasse gewesen.
Hofmannsthal heiratete Gerty Schlesinger 1901. (Dabei war die Christin Paula zum jüdischen Glauben übergetreten und die Jüdin Gerty Christin geworden – zumindest ein konfessionelles Problem, das die beiden Juden Schnitzler und Olga nicht hatten).
Gleichfalls 1901 schlossen Jakob Wassermann und Julie Speyer den Bund: Eine Ehe, die später so schief gehen sollte wie jene Schnitzlers, was damals aber noch niemand ahnen konnte.
Felix Salten schließlich hatte 1902 seine Freundin, die Schauspielerin Ottilie Metzl, geheiratet.
Olga sah, dass die meisten Freunde ihres Geliebten offenbar oder scheinbar glückliche Ehemänner waren. Sie dachte nicht daran, ihr Leben als ewige „Konkubine“ zu führen.
Aber nun hatte sich der Dichter unter dem dauernden Druck auch entschlossen, die Konsequenzen zu ziehen: Schnitzler wandte sich aus nicht erfindlichen Gründen zuerst an den Rabbiner in Mödling, wurde aber offenbar in die seinem Wohnsitz nächst gelegene Schopenhauergasse verwiesen, wo er beim Tempeldiener Erkundigungen einzog. Der Währinger Tempel (der 1938 zerstört und nicht mehr aufgebaut wurde) war ein stattliches Gebäude, das die Jüdische Gemeinde von Währing unabhängig von der Stadt Wien 1888 und 1889 hatte errichten lassen. 1890 wurden zahlreiche Vororte, auch Währing, in die Großstadt Wien eingemeindet, und damit übernahm die Kultusgemeinde den Tempel. Als Schnitzler hier wegen einer Eheschließung vorsprach, war David Feuchtwang der Rabbiner. Schnitzler musste noch den Advokaten Dr. Frey „in Heiratsangelegenheit“ heranziehen, meldete sich beim Obercantor im Tempel und setzte dann, nachdem er immer wieder längere und kürzere Reisen dazwischen geschoben hat, den entscheidenden Schritt.
Immer wieder hatte er sich innerlich gegen die Ehe gestemmt und dies offen seinem Tagebuch anvertraut („mein Egoismus, der sich ebenso gegen Gebundensein als gegen Sorgen sträubt“), aber am 26. August (Sohn Heini ist bereits ein Jahr alt) stehen er und Olga dann in einem Zimmer im Tempel in der Schopenhauergasse. Richard Beer-Hofmann und Gustav Schwarzkopf sind Trauzeugen, „Dr. Feuchtwang sprach kurz und gut; sehr sympathisch. Cantor Peterselka.“ Man isst danach in Olgas Wohnung in der Gentzgasse. Schnitzler geht „nach Hause“ und schreibt seiner Mutter, die verreist ist, seinem Bruder und Paul Goldmann, dass er geheiratet hat. Man nachtmahlt im „Gersthofer Restaurant“. Man ist schließlich in Währing.
Am 2. September 1903 holt Schnitzler seine Mutter von der Bahn ab. Olga ist in der Früh übersiedelt. Schnitzler findet positive Worte über die Wohnung in der Spöttelgasse, offenbar zum Besten entschlossen: „Neue Wohnung, wunderschön durch Ruhe, Aussicht auf den Sternwartegarten, hohe Lage, Balkons.“ Es ist ein neues Haus, das heute noch mit einer prachtvoller Historismusfassade (heute in Schönbrunnergelb, die damalige Farbe des Hauses wird nirgends erwähnt) erstrahlt, wo die Jahreszahl „1903“ vermerkt ist. Ein Foto, das Olga, Schnitzler und Heini auf dem Balkon zeigt, lässt darauf schließen, dass es sich um die linke Wohnung in zweiten Stock gehandelt haben könnte. Jedenfalls muss dieser Balkon den Blick auf den Sternwartepark und die machtvoll darin ruhende Sternwarte geboten haben.
An diesem 2. September 1903 abends gab es dann ein Essen in der Frankgasse im Familienkreis, in den Olga nun aufgenommen ist. Er begleitet Olga in die neue Wohnung, schläft aber offenbar noch bei der Mutter, da er am nächsten Vormittag wieder kommt.
Offenbar pendelt Schnitzler noch tagelang und empfindet das Phänomen geteilter Loyalitäten zwischen einem Wohnsitz, den er verlässt, und einem, dem er sich vielleicht nicht völlig gern zuwendet. Wenn er im Tagebuch jetzt „zu Haus“ schreibt, fügt er in Klammern „(Frankg.)“ hinzu.
Am 8. September 1903 ist es für ihn so weit: „Abschied Nachm. von meiner Wohnung“ bedeutet mehr, als diese Worte sagen: Eine harmonische und in der Verantwortung leicht erträgliche Partnerschaft mit der Mutter wird für die Beziehung mit einer im Grunde unverträglichen Frau eingetauscht. Olga hat viele Qualitäten, vor allem die Intelligenz, mit der sie Schnitzler immer bestrickt hat. Und sie ist die Mutter dieses Sohnes, den er liebt. Der Umzug dauert drei Tage. Zwei davon ist er „Abd. bei Mama“. Besuche bei ihr bleiben auch im neuen Leben ein Fixum seiner Existenz.
Leben in Währing
Wie hat Arthur Schnitzler nun in Währing, das er bis zu seinem Tode nicht mehr verlassen sollte, gelebt? Man kann hier nicht die Jahrzehnte bis 1931 detailliert schildern, aber sich vielleicht jene Anfänge von 1903, 1904 hernehmen, in denen Schnitzler sich in sein neues Leben einfügt. Wo die Wohnung ein Telefon hat, wo man für Klein Heini schon eine Kinderjause veranstaltet, wo ein Koksofen in einem feuchten Zimmer eine leise Kohlengasvergiftung nach sich zieht, wo man in Grinzing spazieren geht, in Gersthof isst und abends auch gerne einmal behaglich zuhause bleibt, weil man es schön hier hat…
Wenn Schnitzler schreibt, dass er in der Silvesternacht 1903 auf 1904 mit Olga „zu Fuss in schöner Winternacht nach Hause“ geht, von einem Abend bei der Mutter kommend, kann man sich heute noch gut vorstellen, wie die Strecke wohl war:
Von der Frankgasse hinter der Votivkirche zur Währingerstraße, diese hinauf bis zum Gürtel. Hier steht seit 1898 das mächtige Gebäude, das wir heute „Volksoper“ nennen und das zum fünfzigjährigen Regierungsjubiläum von Kaiser Franz Joseph als „Kaiser Jubiläums Stadttheater“ gebaut wurde. Dann vermutlich über den Gürtel, von der Währingerstraße zur Gentzgasse. Welche Querstraße er gewählt hat, um zur Spöttelgasse zu kommen, die heute Edmund-Weiß-Gasse heißt (die Benennung erfolgte 1918, da wohnte Schnitzler schon ein paar Hundert Meter weiter), wissen wir nicht.
Wie Schnitzler vieles nicht wissen konnte – etwa, dass er in ein paar Jahren weiterziehen würde, aber gar nicht so weit, auf die andere Seite der Sternwarte, in die Parallelstraße, die Sternwartegasse. Und auch dort sollte er sich als wackerer Spaziergänger zwischen Alsergrund und Währing erweisen, etwa in jener Nacht, als er Sigmund Freud in die Berggasse heim begleitete, und die Herren den Weg zweimal machten, weil sie gar nicht aufhören mochten sich zu unterhalten…
Fixpunkte von Schnitzlers Alltags sind die Besuche bei seiner Mutter, Besuche bei Freunden und das Empfangen von Besuchen. Ebenfalls Aktivitäten, für die er Währing genau so verlassen muss wie für die Besuche bei der Mutter in der Frankgasse, sind seine regelmäßigen Theater- und Konzertbesuche, die ihn in die Innere Stadt holen, wobei Schnitzler im Tagebuch so gut wie nie die banalen Nebensächlichkeiten erwähnt, wie er wohin kommt – es ist anzunehmen, dass die „öffentlichen Verkehrsmittel“ für ihn eine große Rolle spielen. Allerdings fällt auf, dass er immer wieder erwähnt, wenn ein Bekannter ein Auto besitzt oder wenn er selbst mit einem solchen (in einem Mietwagen) fährt: Aber die konkrete Überlegung, sich selbst eines zuzulegen, findet man nicht. Wir wissen nur, dass es ab 1903 keine Pferdetramway mehr in Wien gab – und dass der „39er“ Schnitzler ab 1907 jedenfalls in Richtung Stadt bis zum Schottentor, in Richtung Vorstadt bis Sievering gebracht hat…
Auffallend oft ließ Schnitzler einen Theaterbesuch mit einem Essen in einem der Luxushotels in der Inneren Stadt ausklingen, die für ihre Restaurants berühmt waren – bei Meissl & Schaden am Neuen Markt, wo das Rindfleisch so legendär war wie heute bei Plachutta (und wo 1916 Friedrich Adler den Grafen Stürgkh erschoß). Auch das Hotel Klomser in der Herrengasse 19, wo Schnitzler oft zu finden war, bekam einen blutigen Fleck, als man dort 1913 Oberst Redl als Spion stellte und er hier Selbstmord beging… Vom „Deutschen Haus“ am Stefansplatz sind zumindest keine Bluttaten bekannt.
Von 1903 an gibt es eine Novität in Wien, die Schnitzler oft in die Innere Stadt, auf den Kolowrat-Ring zieht (der heute Schubert-Ring heißt). Dort steht das so genannte „Kaiser-Panorama“, das eine frühe Version dessen bietet, was man heute vielleicht „Dia-Show“ nennen würde (und was heute ähnlich wohl nur noch bei den Peep-Shows im Prater zu finden ist) – der Besucher sitzt auf einem Sessel vor einem zylindrig-runden Holzkasten und blickt durch Gucklöcher. Vor seinen Augen ziehen kolorierte Bilder vorbei, die durch diverse Linsen den Eindruck der Räumlichkeit erweckten. Es gab 50 Bilder zu einem Thema, die an den Besuchern vorbeizogen, und sie faszinierten Schnitzler ungemein, da sie ihm offenbar neue Welten eröffneten.
Schnitzler-Forscher mit unendlichem Wissen und penibler Genauigkeit wie Peter Michael Braunwarthhaben alle „Panorama“-Besuche Schnitzlers zwischen dem 15. Jänner 1903 und dem letzten am 22. März 1927 (!) aufgezeichnet, wobei sein Interesse zurück ging, sobald der Film aufkam, der dann einen großen Teil von Schnitzlers Faszination an „lebenden Bildern“ absorbierte. Der erste dieser 206 Besuche im „Panorama“ galt „Siam“ (dem heutigen Thailand), der letzte „Dalmatien“, und der Anteil an exotischen Schauplätzen, die Schnitzler betrachtete, war groß – ist er doch selbst viel gereist, aber im Gegensatz zu Kollegen, für die Ägypten oder Palästina selbstverständliche Unternehmungen waren, nie weiter als Konstantinopel gekommen, und das war seine einzige wirklich „große“ Reise. Der Rest spielte sich in Europa ab. Manchmal liefern die doch lapidaren Tagebuchnotizen Schnitzlers in wenigen Worten ganz exakte Motivationen: So schrieb er nach einem Panorama-Besuch: „Solche Reisesehnsucht, dass ich gleich ins andre ging.“
Denn hier sah er China und Chile, Persien und Moskau, die Pyramiden und Indien. Er betrachtete auch Bilderfolgen, die auf reine Sensation ausgerichtet waren wie das Erdbeben von San Francisco oder im Weltkrieg Schlachtfelder-Impressionen. So wie seine Lektüre breitest gefächerte Interessen zeigt, taten es auch seine Panorama- und später dann Kinobesuche.
Im übrigen war Schnitzler nur an einem Ort zumeist glücklich: in der Natur. Der Anteil, den Spaziergänge, Wanderungen und Partien in seinem Leben einnehmen, ist zweifellos überdurchschnittlich groß. Als er in Währing lebte, lag vieles davon unmittelbar vor seiner Türe, wenn man so sagen will – Neuwaldegg, Pötzleinsdorf, Sievering, Salmannsdorf , Grinzing. Aber auch der Dreimarkstein, Krapfenwald, Hameau oder, auf der anderen Seite der Stadt, Hütteldorf, Hietzing, Hetzendorf, Lainz kommen an die Reihe, sei es per Rad, sei es zu Fuß.
Schnitzler ist auch als Bicycle-Fahrer ein großer Zu-Fuß-Geher, und wenn er es allein tut, dann hat das für den Dichter einen tieferen Sinn, denn er befindet sich mit sich, seinen Ideen, seinen Figuren in kreativster Auseinandersetzung. Er kann bei diesen Spaziergängen ganz tief in sich hinein schweigen, wie seine letzte Lebensgefährtin Clara Katharina Pollaczek quälend und für sich geradezu provokant erfahren wird. Oder er führt die angeregtesten Gespräche mit Spazier-Partnern, die ihn interessieren.
Jedenfalls aber verschreibt sich Schnitzler als Arzt – ob bewusst, ob unbewusst, aus Instinkt, wer weiß das schon – einfach die Bewegung. Wenn er sich selbst als Menschen diagnostiziert, der unter schweren seelischen „Verkrampfungen“ leidet (er nennt es im Tagebuch „krampfgeneigtes Wesen“), dann ist es natürlich das einzig Richtige, den Körper in die Natur zu schicken, der Spannung die Entspannung entgegenzusetzen.
Die Lektüre des Tagebuchs kann da noch viele interessante Details zum Thema liefern – etwa, dass er auch topographisch genau träumen kann, dass er nach dem Erwachen weiß, wenn er im Traum auf der Ringstraße oder im Türkenschanzpark war. Man erfährt auch, dass er manchmal in der Einsamkeit des Spaziergangs plötzlich kritische Situationen erlebt, wenn er sich einmal bei Nebel in den Weinbergen verläuft und nicht herausfindet, oder wenn er auf Glatteis gerät. Man ist gelegentlich weit draußen und sehr allein. Genau so wichtig ist es, wenn er etwa zu der Ortsbestimmung „Neuwaldegg“ einmal „Wald, Frühling“ dazuschreibt, lapidare Worte nur, aber eine ganz starke Begründung für das, was ihn ins Freie treibt. Und immer wieder bricht sein Entzücken am Wiener Wald durch…
Ja, und die Nachwelt weiß so vieles besser als jener, der nicht in die Zukunft blicken kann. Als Arthur Schnitzler einmal rund um die Sternwarte spazieren ging, die vor seiner Wohnung in den Spöttelgasse lag, da traf er Burgschauspieler Alexander Römpler. Wie auch nicht? Dieser wohnte ja in der Straße auf der anderen Seite der Sternwarte, folglich Sternwartestraße genannt. Auf Nr. 71. In jenem Haus, das seine Witwe, die Hofschauspielerin Hedwig Bleibtreu, auf der Bühne auch Schnitzler-Interpretin, nach dem Tod dieses Alexander Römpler an Arthur Schnitzler verkaufen würde…
Schnitzler brauchte dieses Haus nicht nur, weil er zunehmend erfolgreicher wurde und seine Freunde auch bemerkenswerte Häuser und Villen besaßen. Er hoffte wohl, seine nicht allzu glückliche Ehe mit einer permanent unzufriedenen Frau zu retten. Ihr Traum von einer Karriere als Sängerin brachte gewaltige Unruhe in den Schnitzler’schen Haushalt, zählte er doch zu den Männern, die sich für den Nabel der Welt hielten (und wäre wohl dankbar gewesen für eine Frau, wie Sigmund Freud sie hatte, deren einziger Lebensinhalt darin bestand, dem Gatten jenen reibungslosen Alltag zu bereiten, der ihn nicht bei der Arbeit störte).
Das zweite Kind in der Schnitzler-Ehe wird am 13. September 1909 geboren und ist die Tochter Lili, jener Mensch, den Arthur Schnitzler mit absolut unbedingter, hingebungsvoller, selbstloser Liebe umgeben wird. An sie knüpft er auch die Hoffnung, dass Olga sich nun mit dem Leben als Gattin und Mutter zufrieden geben wird – wenn er ihr für die größere Familie nun das repräsentative Haus bietet, das sie beide sich wünschen.
Währing zum Zweiten: Sternwartestraße 71
Die Sehnsucht nach einem eigenen Haus kann man manchen Bemerkungen Schnitzlers in seinem Tagebuch oder Briefen entnehmen. Sieht er etwa Kollegen mit einem solchen gesegnet, wird der Wunsch besonders stark. „Alle Menschen haben eigne Häuser, […] – und ich – ich“, schrieb er schon 1902, als er noch nicht mit ihr zusammen lebte, an Olga Gussmann, wobei er hier noch im Grunde eher eigene Erfolg- und Mittellosigkeit im Vergleich zu Kollegen beklagte. Tatsächlich gab es da die schon erwähnten, eindrucksvollen Beispiele von „repräsentativem“ Wohnen, bei Bahr oder Hofmannsthal. Erst mit seiner Villa im Cottage-Viertel bekam dann auch Schnitzler „eine Adresse“, die immer und überall ein wichtiger Teil des Sozialprestiges ist.
Noch vor der Geburt seines ersten Kindes spricht er mit Hofmannsthal über die Idee eines Hauskaufs, was dieser als Schnitzlers Bereitschaft wertet, nun doch zu heiraten, was Schnitzler damals noch verneint. Aber als er im Oktober desselben Jahres 1902 Gerhart Hauptmann in Agnetendorf besucht hatte, schrieb er, diesmal dezidiert Gemeinsamkeit anstrebend, an Olga: „Ich sitze allein in der großen Halle des Hauptmannschen Schlösschens und denke mir, wie schön es wäre mit dir zusammen in einem eignen Haus fern der Stadt zu wohnen.“
Das sollte sich erst acht Jahre später erfüllen, nicht wirklich „fern der Stadt“, aber doch weit genug von deren Trubel entfernt und nahe genug in die geliebte Natur – im Cottage Viertel. Nun hätte es in dieser Region der Stadt noch ein anderes Viertel gegeben, das sich für „Künstler“ und wohlhabende Bürger anbot, nämlich auf der „Hohen Warte“, wo damals, zu Beginn des Jahrhunderts, zahlreiche Villen entstanden, viele von Josef Hoffmann gebaut. Man nannte diese Sammlung eleganter Moderne später gern eine „Künstlerkolonie“ und in den dreißiger Jahren haben Alma Mahler und ihr Gatte Franz Werfel dort eine Villa bezogen.
Schnitzler, der die Hohe Warte vermutlich gut kennt (jedenfalls notiert er Spaziergänge dort, und zweifellos hat er sich auch die Villen betrachtet), begab sich allerdings von der Spöttelgasse auf die andere Seite der Sternwarte – in die Welt des so genannten „Cottage“. Dieses „Cottage“-Viertel (die Wiener sagen noch immer französisch „Cottääsch“) ist eine sehr noble, weil selten exzentrische, immer elegante Villen-Welt der Reichen, inmitten von Gärten und baumbestandenen, ruhigen Straßen rund um die Hasenauerstraße, die Währing und Döbling trennt. Schnitzler blieb in der Sternwartestraße ein „Währinger“.
Eigentlich kam alles, wie so vieles im Leben, durch einen Zufall. Olga Schnitzler, noch immer von ihren Ambitionen getrieben, nahm Schauspielstunden bei dem Burgschauspieler Alexander Römpler. Dessen Villa in der Sternwartestraße 71 muss zumindest Olga bekannt gewesen sein. Römpler starb am 18. Dezember 1909, und Schnitzler bewahrte ihm im Tagebuch ein ehrendes Andenken.
Folgt man den Spuren des Tagebuchs detektivisch, so scheint Olga Schnitzler am 17. Februar 1910 irgendwo in der Gegend Hedwig Bleibtreu getroffen zu haben, Römplers Witwe, die große Burgschauspielerin. Sie war Schnitzlers als Darstellerin bestens bekannt und für die Rolle der Frau Klähr in seinem Stück „Der junge Medardus“, das imBurgtheaterder Uraufführung harrte, in Aussicht genommen. Offenbar lud Hedwig Bleibtreu Olga in das Haus in der Sternwartestraße ein. Es muss für die Witwe eine Erleichterung gewesen sein, über den toten Gatten mit jemanden zu sprechen, der ihn so verehrt hatte wie Olga Schnitzler. Möglicherweise kam da auch das Gespräch darauf, dass Hedwig Bleibtreu nicht mehr allein in dem großen Haus bleiben wollte.
Denn am 26. März 1910 vermerkte Schnitzler in seinem Tagebuch: „Dann mit O. das Haus Römpler-Bleibtreu besichtigt, Frau B. geleitete uns. Es überraschte mich aufs angenehmste, und der Gedanke des Kaufs wird lebhaft erwogen.“
Frau Bleibtreu gab den Schnitzlers offenbar Pläne des Hauses mit, und das Ehepaar erging sich noch am gleichen Tag in „Eintheilungsgesprächen“. Schon am Tag darauf, es war der Ostersonntag, war Schnitzler bei seiner Mutter (mit der er ein Bach-Konzert vierhändig spielte) und ging anschließend zu Bruder Julius und dessen Frau Helene:
„Gespräch über das Haus und Kauf.“ Tatsächlich musste Schnitzler, um den Kauf finanzieren zu können, seinen Bruder – die „Ärzte“ waren da offenbar wohlhabender als der Dichter – um einen Kredit bitten.
Die Sache ging nun schnell vonstatten, schon am Ostermontag erfolgte die nächste Besichtigung: „Julius und Helene holten uns ab. Wir besichtigten wieder das Bleibtreu-Haus. Julius und H. sind sehr dafür. Gewisse architektonische Veränderungen wären nötig.“
Wiederum am nächsten Tag, dem 29. März 1910, ging Schnitzler mit seinem Freund Richard Beer-Hofmann, der ja in der Hasenauerstraße, also in der Nähe wohnte, und dessen Urteil ihm so wichtig war, in die Sternwartestraße, wo man offenbar schon einen Baumeister hinbestellt hatte: „Mit O., Richard in die Römpler Villa. Der Baumeister und Cottage Direktor Müller (Bruder von Sommerstorff). Die Veränderungen leicht durchzuführen und billig. Zustand der Villa allerbest. Auch Richard war höchst eingenommen. Besprechung mit Frau Bleibtreu. – Ob ihr die Aussicht ins grüne nicht abgehen würde? Sie… „Es fehlt mir so viel, dass es darauf nicht mehr ankommt.“ – Ich dachte: Wie wunderbar wirst du die Frau Klaehr spielen.-“
Was nun folgt, sind die üblichen Probleme, die jeder Hauskäufer kennt, auch wenn er kein berühmter Dichter ist. Am 2. April konsultiert Schnitzler den Anwalt Friedrich Geiringer wegen des Hauskaufs, und „Wohnungsmessungen“ spielen in seinen Gesprächen mit Olga offenbar und logischerweise eine große Rolle. Ihre Schwester Liesl interessiert sich dafür (zweifellos nicht uneigennützig), ob das Haus ein Fremdenzimmer hätte… Dass Schnitzler und Olga über Einrichtungsfragen nicht immer einer Meinung sind, die Stimmung bei diesbezüglichen Diskussionen „gewittrig“ werden kann, das geht wohl manchem Ehepaar bei einer Übersiedlung so.
Am 7. April 1910 kommt ein großer Moment: Im Haus in der Sternwartestraße wird mit Schnitzlers Anwalt und dem Notar Siegmund Holding der Vertrag unterzeichnet, Hedwig Bleibtreu stimmt der Preisreduktion um 5000 Kronen „In Gottes Namen“ zu: „Und so war das Haus in unseren Besitz übergegangen. – 95.000 Kronen; die Hälfte leiht mein Bruder, die andre die Sparkasse.“ Schwester Gisela zeigte sich übrigens pikiert, dass Schnitzler nicht auch bei ihr und ihrem Mann um einen privaten Kredit angefragt hatte…
Am 14. April wird der Kaufvertrag für die Sternwartestraße noch einmal unterzeichnet. Nun kann Hedwig Bleibtreu die Tränen nicht mehr zurückhalten. Und Schnitzler zeigt Anwalt Geiringer den Garten, den er nun wohl schon als den seinen empfindet… Später wird er von ihr noch eine Unterschrift benötigen, bezüglich der Hypothek auf das Haus, da Schnitzler in der Sparkasse eine so genannte Hypothekaranleihe aufnimmt.
Was Hedwig Bleibtreu betrifft, so verkaufte sie ein Haus – und zog in ein anderes, das dessen Zwilling war. Gebaut hatte die Villa in der Sternwartestraße Heinrich Sikora, der Baumeister der Zweiten Wiener Hochquellwasserleitung (und nebenbei ein Freund des so judenfeindlichen Wiener Bürgermeisters Lueger). Für sich selbst hatte er ein ähnliches in der Hochschulstraße 25 erbaut. Als nun Hedwig Bleibtreu das erinnerungsschwere Haus Sternwartestraße 71 verließ, verkaufte er ihr sein Haus. Sie zog also in ein nahezu identisches ein…
Für Schnitzler begann eine Zeit hektischer Aktivitäten. Schon damals gab es das Transportunternehmen Schenker, das sich über die Zeiten bis heute gerettet hat: 1872 gegründet, war die Firma mit ihrem Motto „Von Haus zu Haus in einer Hand“ Marktführer, und auch Schnitzler erkundigte sich dort bereits zwei Tage nach der ersten Vertragsunterzeichnung bezüglich der Übersiedlung.
Nun muss sich ein Mann wie er, von künstlerischen Fragen bedrückt, vor dem sich die Probleme der Aufführung des „Jungen Medardus“ auftürmen und der unter größten Schwierigkeiten an seinem Stück „Das weite Land“ feilt, mit Möbelstoffen befassen. Aus den Notizen des Tagebuchs geht hervor, unter welch schwerem Druck Schnitzler in diesen Monaten von Hauskauf und Übersiedlung steht…
Sorgen machen ihm natürlich die finanziellen Ausgaben, die natürlich auch durch den Wohnungswechsel „ins wahnwitzige“ zu steigen scheinen. Und wenn Olga dann mit Richard und Paula Beer-Hofmann, die keine Geldprobleme kennen, zu einem Antiquitätenhändler geht und „schöne Sachen entdeckt, die wir für die neue Wohnung brauchen“, dann kann der Mann, der dies bezahlen muss, nur in Düsterkeit versinken. Schließlich ergibt sich, was Schnitzler erwartet hat: Der Kostenvoranschlag für die Sanierung des Hauses steigert sich bedeutend, „doch war ich so sehr darauf gefasst, dass es mich kalt lässt.“ Charakteristischerweise wird in diesen Monaten einer seiner Träume davon handeln, dass ein Jugendfreund ihn zum Universalerben (!) einsetzt. Um einen Wunschtraum dieser Art zu deuten, bedarf es keines Professors Freud…
Weil Wien ein Dorf und Klatschnest ist, gratuliert ihm jeder zum „neuen Haus“, das Schnitzler selbst abwechselnd als „Haus“ und als „Villa“ apostrophiert. Es beherrscht den Alltag: Man wählt Tapeten, man geht „im Cottage“ spazieren, vermutlich mit neuem Blick die neue Lebenswelt erforschend, man sucht immer wieder den Architekten des Umbaus auf, konferiert mehrfach mit der Firma Schenker, landet immer wieder bei dem Antiquitätenhändler Berger, bespricht sich mit dem Elektriker, braucht einen Gärtner, sucht Lampen aus, besucht einen Glaslusterfabrikanten, verhandelt mit dem Tischler – Schnitzler notiert manchmal bloß „Villa, etc.“ , als sei es ihm zu mühselig aufzuzählen, was sich diesbezüglich alles begibt und ergibt. Die „Übersiedlungs-Unordnung“ beeinträchtigt auch sein künstlerisches Schaffen, da er sich an keine richtige Arbeit traut, wie er notiert.
Nicht nur bei Schnitzler verändert sich manches – auch Währing ist in Bewegung. Nach einem Spaziergang mit Olga notiert Schnitzler: „Veränderungen des Stadtbilds in der Gegend des neuen Türkenschanzparks.“ Dessen Erweiterung war zwei Jahre davor beschlossen worden, man hatte benachbarte Sandgruben einbezogen, den Boden verbessert und auch Bäume und Sträucher aus anderen Klimazonen angepflanzt, die hier nicht üblich waren. Der „Türkenschanzpark“ ist eine besondere Attraktion geworden. Dass hier einmal seine eigene, übrigens sehr gelungene Büste von Paul Peschke aufgestellt werden würde – das kann Arthur Schnitzler damals wahrlich nicht ahnen…
Anfang Juli ist es so weit: Schnitzler ordnet seine Bücher zum Verpacken, dann „flüchtet“ man auf den Semmering (der Anlass ist mit dem 70. Geburtstag der Mutter, der dort gefeiert wird, gegeben), und als sie zurückkehren, ist die Wohnung in der Spöttelgasse schon „im Stadium der beginnenden Zerstörung“. Nun geht es tagelang ans Packen, und doch gibt es in diesen Momenten der Unruhe und Verstörung offenbar auch Glücksmomente: „Aß zum ersten Mal eine Kirsche vom eignen Baum.“ Und wenn Töchterchen Lili im Garten der Villa auf der Wiese liegt, setzt sich dieses Glück fort…
Die Bücher nehmen ihren Weg in das neue Haus, Schnitzlers Arbeitszimmer desgleichen, und am 15. Juli 1910, man ist noch gar nicht eingezogen, stellt Burgtheaterdirektor Baron Berger den ersten „Besuch“ in der Villa dar – es ist, Schnitzler kann es noch nicht absehen, ein gutes Omen, denn noch unter Berger werden in diesem und im nächsten Jahr „Der junge Medardus“ und „Das weite Land“ große Uraufführungserfolge für den Dichter am Burgtheater. Im Moment ist aber alles noch in einem höchst unsicheren Verhandlungsstadium. An diesem Abend hat Schnitzler in seiner letzten Nacht in der Spöttelgasse verwirrte Träume, in denen er durch das Burgtheater irrt…
Tags darauf wird bei schönstem Wetter übersiedelt. Man räumt den ganzen Tag, abends funktioniert das elektrische Licht nicht, aber dass Schnitzler stichwortartig „Bad“ aufschreibt, scheint doch Zufriedenheit mit dem Badezimmer anzudeuten. Wie stets notiert er seine Träume, aber jene der „ersten Nacht“ in dem Haus, in dem er den Rest seines Lebens verbringen wird, haben nichts mit diesem zu tun.
Schnitzler erwacht früh: „Schreibe an meinem Schreibtisch, mit dem Blick über die Veranda, auf die Baumwipfel unseres Gartens, Häuservielheit, Morgenhimmel, das Haus gegenüber, wo eben das Dach fertig gestellt wird (Holzgerüst) – die letzten Tage nieder.
Alles ist gut – vieles wunderschön“, wenn er auch die Sorgen nicht vergisst. Und, was für ihn so wichtig ist: Zum ersten Mal in seinem Leben „wohnt“ er inmitten von Natur. Alles Bisherige waren Stadtwohnungen gewesen. Nun ist er dort, wo er sich am wohlsten fühlt.
Schnitzler ist angekommen. Die ersten Tage bringen Ordnungsmachen, so intensiv, dass er nur in den Garten stürzt, als ein Schrei seiner Frau ihn aufschreckt, die dachte, Töchterchen Lili fiele aus dem Wagen, als sie vom Balkon hinuntersah. Man isst künftig des öfteren im Türkenschanzpark, und nach und nach genießt Schnitzler seinen Garten wirklich. „Ordnen, Räumen“ – man kauft auch noch das eine oder andere Stück („ein hübsches Pult“, das früher Schriftstellerkollegen Felix Dörmann gehört hat), Olga bekommt einen neuen Bücherschrank. Schnitzler erwähnt nicht ohne Behagen, dass er mit seinen Gästen „auf dem Balkon“ sitzt. Er ist gerne im Garten und liest, spielt dort auch mit Olga und Sohn Heini Ball, und natürlich hat er ein Klavier, auf dem er phantasiert. Das Leben normalisiert sich, wenn auch das „Ordnungmachen“ noch lange anhält. Und schon Anfang August wird mit einem Zimmermeister „ein Salettl oder dergl.“ in Aussicht genommen…
Schriftstellerkollege Stefan Zweig, der mit Schnitzler in losem, aber freundschaftlichem Kontakt steht (sehr ehrfurchtsvoll und bewundernd von Seiten des knapp zweieinhalb Jahrzehnte Jüngeren), schickt Schnitzler zum Einzug in das Haus einen „Hausspruch von Goethe“ als Autograph des Olympiers, dessen Eigenhändigkeit auf dem Blatt von Eckermann selbst bestätigt wurde. Zweig gesteht zu, dass der Edelgenius von Goethe bei diesen Versen geschlafen habe („Gott segne das Haus / Zweymal rannt ich heraus./ Denn zweymal ist’s abgebrannt, / Komm ich zum drittenmal gerannt, / Da segne Gott meinen Lauf, / ich bau’s wahrlich nicht wieder auf.“). Aber es ist wahrlich ein Geschenk von höchstem Wert, zumal Schnitzler den Dichter sehr verehrt.
Unterspielend hat Schnitzler kurz nach dem Einzug in die Sternwartestraße am 23. Juli 1910 an Richard Beer-Hofmann geschrieben, „Wir (..) freuen uns des neuen Heims.“
Ein nachdrücklicheres, wenn auch bescheiden gehaltenes Gefühl von Glück und Stolz über Heim und Familie klingt durch, als Schnitzler am 19. Jänner 1911 an den von ihm besonders geschätzten Georg Brandes schreibt:
„Wie gerne möchte ich mit Ihnen reden, Sie in meinem Hause begrüßen – „Mein Haus“ sag ich, denn im vergangenen Sommer habe ich von Frau Bleibtreu, der Witwe des Schauspielers Römpler – (sie spielte die Frau Klähr im Medardus), eine kleine Villa im Cottage gekauft, die ich mit Frau und Kindern – (den Buben, der jetzt 8 Jahre ist, kenne Sie von Marienlyst her, das Mädchen ist kaum anderthalb Jahre alt) bewohne.“
Glück spricht daraus, endlich auch räumlich angekommen zu sein in einer Umgebung, die Schnitzler behagt, und es gibt glücklicherweise eine ganze Serie von Fotos, die das Haus, vor allem aber ihn darin zeigen.
Im Gegensatz zu dem geradezu legendären, immer wieder publizierten Schnitzler’schen Familienfoto, das laut Tagebuch am 25. Juni 1910 im Salon von Madame d’Ora, der berühmtesten Fotografin von Wien, entstanden ist (wobei die Strohhüte, die am 19. Juni gekauft worden waren, bei allen Familienmitgliedern außer der kleinen Lili zum Einsatz kamen), stammen die Villa-Bilder von einem der Nachwelt weiter nicht bekannten Fotografen namens Franz Ankner, der in Schnitzlers Tagebuch ein einziges Mal auftaucht: An jenem 17. Juni 1912, als er bei Schnitzler erschien: „Nm. Photographierte Photograph Ankner unser Haus.“ Es gibt keine darüber hinausgehendeInformation – wohl aber die Fotos. Man sieht die Villa von der Straßenseite, wo sie sich – wie im Cottage oft zu finden – hinter einer Mauer und hoch wachsenden Sträuchern versteckt. Und man sieht sie vor allem von der reizvollen Gartenseite, wobei Schnitzler mit Lili auf dem Balkon steht, Olga mit Heini im rundum blühenden Garten.
Die weiteren Fotos, die möglicherweise / vermutlich damals entstanden sind (das Bildarchiv der ÖsterreichischenNationalbibliothekidentifiziert aus seinen Beständen nur das Außen-Gartenbild der Villa als Ankners Arbeit) zeigen das Esszimmer mit großem Fenster, das Musikzimmer und das Schlafzimmer mit einem sehr unspektakulären eisernen Doppelbett. In Schnitzlers Arbeitszimmer hängt rechts von seinem Schreibtisch, auf dem eine Pflanze steht, eine Kopie der Mona Lisa – das scheint auf eine Art Bildungsbürgertum zu deuten, das Schnitzler fern war, allerdings hat er seine Vorliebe für die Renaissance in mehreren Stücken (vor allem „Der Schleier der Beatrice“) bewiesen. Vor seinem Schreibtisch steht eine Couch, ähnlich wie man sie von Sigmund Freuds Arbeitszimmer kennt, nur dass Schnitzler sie nicht für psychoanalytische Sitzungen benützte.
All das zeigt keinen übertriebenen Aufwand, vor allem nicht im Vergleich mit anderen Interieurs. Der Beginn des 20. Jahrhunderts war, solange die Habsburger-Monarchie zumindest äußerlich intakt schien, noch ein Zeitalter, in dem die Stile sich überlappten. Mit Wohlhabenheit ging nach wie vor die Üppigkeit des Historismus Hand in Hand, wie ihn Hans Makart für Wien prägte, den Geschmack in Richtung nachgeahmter früherer Epochen und exzessiver Überladenheit ausrichtend. Auf der anderen Seite blickte man in die Zukunft, und der Jugendstil war dabei schon längst etablierte Gegenwart, auf seine Art – wenn auch ästhetischer und eleganter – ebenso spektakulär wie der Historismus.
Sieht man die Fotos, die von der Inneneinrichtung von Schnitzlers Haus existieren, so ist da kein „Stil“ festzustellen, sondern einfach „Wohnen“, „Leben“. Für Sammelexzesse fehlte ihm das Geld. Er hatte keinen exquisiten Bestand von Biedermeiermöbeln geerbt wie sein Freund Richard Beer-Hofmann. Und ein Vergleich liegt besonders nahe: Zu Schnitzlers Adresse „Sternwartestraße 71“ war der Maler und Radierer Ferdinand Schmutzer in der Sternwartestraße 62-64 fast ein „Nachbar schräg vis a vis“: Zimmer seines Hauses waren nicht nur kostbarer eingerichtet, sie weisen auch auf Sammlertätigkeit (oder Erbe) kostbarer Stücke hin, etwa bei einem Renaissanceschrank oder einem Kachelofen aus dem 18. Jahrhundert. Am Tag seiner Übersiedlung übrigens hat Schnitzler in aller Früh, als er nach unruhigen Träumen erwachte, von seinem Haus „auf das weiße, noch nicht bewohnte Haus Schmutzers“ hinüber gesehen, das damals noch im Bau war (Architekt Robert Örley schuf eine großzügige, repräsentative Anlage) und das 1911 bezogen wurde, woraus sich eine angenehme Nachbarschaft ergab.
Ferdinand Schmutzer hat sich Arthur Schnitzler übrigens im Juli 1911 „bei der Tram“ vorgestellt, was den Schluss nahe legt, dass die großen Künstler für ihre Ausflüge „in die Stadt“, wie man in Wien sagt, die Straßenbahn – damals noch „Tramway“ benannt – benutzten. Die Beziehung trug dann auch künstlerische Früchte, Schmutzer hat später Schnitzlers Novellen „Die Hirtenflöte“ und „Der blinde Geronimo und sein Bruder“ illustriert und eine großartige Porträtradierung des Künstlers gestaltet.
Zurück zu den Interieurs der Epoche: Gegen die aufwendigeren Einrichtungen anderer Künstler-Häuser ist Schnitzlers Einrichtung gutbürgerlich und effektiv. Allerdings gibt es ein Foto, dessen Entstehung nicht ganz geklärt ist, Schnitzler aber zweifellos in seinen Anfangsjahren in seinem Arbeitszimmer in der Sternwartestraße zeigt. Er steht an seinem Arbeitspult, die kleine Stehlampe hat einen gerüschten Schirm, und über die Maßen auffällig ist eine etwa einen Meter große Kopie der Venus von Milo links von ihm. (Denkt man an den gewaltigen Juno-Kopf im Goethe-Haus in Weimar, haben diese Gips-Kopien der Antike im Hause der Intellektuellen ja edle Tradition – nur die Nachwelt lächelt darüber.) Rechts davon steht ein kleiner Aktenschrank mit geöffneten Fächern.
Es gibt Interieur-Aufnahmen der Schnitzler-Villa, die sein Sohn Heinrich, damals ein begeisterter Fotograf, in des Vaters letzten Lebensjahren gemacht hat. Auch da erblickt man das Schreibpult, doch die Venus fehlt. Der Lampenschirm ist nun aus schlichtem Porzellan, aber die „Goethe-Weihestätte“ ist intakt: Jetzt steht eine kleine Goethe-Statuette rechts am Tisch, die von Michael Powolny für die Wiener Werkstätte geschaffen worden und Schnitzler von seinen Geschwistern zum Geschenk gemacht worden war. Links davon hängen zwei Silhouetten, die obere zeigt Goethe vor einem Grabmal, die untere Goethe und den kleinen Fritz von Stein. Dazu kam das Goethe-Autograph von Stefan Zweig. Rechts an der Wand hängt ein Stich von Beethoven. Die Fotos sind in Details nicht leicht zu erkennen, da die damaligen Kameras noch mit Gegenlicht zu kämpfen hatten und vieles tief im Schatten liegt. Das Haus von außen hat sich wenig gewandelt, die laublosen Bäume zeugen von Herbst und ein großes Auto davor identifiziert die dreißiger Jahre.
Nochmals: Leben in Währing
Schnitzler hat seine beiden letzten Lebensjahrzehnte (genau: 21 Jahre und drei Monate) in seiner Villa in der Sternwartestraße verbracht, von seinen Reisen abgesehen, die zwar zahlreich, aber nie übertrieben lang waren. Hier hoffte er auf die glücklichsten Jahre seines Lebens, aber wir wissen, dass sie es nicht geworden sind. Zwar erlebte er um sein 50. Lebensjahr die größten künstlerischen Erfolge seines Lebens und erklomm (mit Ausnahme des Nobelpreises, den er ersehnte und der nie kam) tatsächlich außerordentliche Höhen des Ruhmes.
Doch sein Privatleben mit Olga, einer schwierigen Partnerin (da hatten es so gut wie alle seine Freunde, Jakob Wassermann ausgenommen, mit ihren Gattinnen besser getroffen), war zunehmend unglücklich. Tatsächlich hatte Schnitzler schon früh (am 3. August 1910) geahnt: „Es fängt nicht gut im neuen Haus an“, und es ging auch nicht wirklich gut weiter, tägliche Querelen, von anderen Verlusten und Tragödien abgesehen.
1911 starb seine Mutter, 1912 mit Otto Brahm sein wichtigster Theaterdirektor, der auch ein Freund gewesen war. Der Erste Weltkrieg bedeutete für Schnitzler nicht nur den Zusammenbruch einer Welt, der er bei aller kritischer Distanz verbunden war, sondern auch den Verlust seines Status als Dichter auf der Höhe seiner Zeit: Von da an klebte ihm das Etikett an, „von gestern“ zu sein, man missverstand ihn als Apologet der nun verhassten, verachteten Monarchie.
1920, 1921 waren die besonders schweren Jahre der „Reigen“-Skandale in Berlin und Wien: Schnitzler erfuhr später, dass es sogar in Währing Hetzversammlungen gegen ihn gegeben habe. Dabei wurde betont, „dass ich ‚ganz in der Nähe, Sternwartestraße 71 wohne…’ Wahrscheinlich war es von Vortheil für mich, dass man bergauf hätte ‚stürmen’ müssen…“
In diese Zeit fiel dann auch die Scheidung von Olga (26. Juni 1921). Die inbrünstig geliebte Tochter Lili lebte teils bei ihm, teils bei der Mutter, die es unstet in Deutschland herumtrieb, Sohn Heini ging aus dem Haus, um in Berlin eine Schauspielerkarriere einzuschlagen, und Schnitzler lebte oft allein, nur mit dem Personal, in seiner Villa.
1924 ereilt Schnitzler das Schicksal der meisten Hausbesitzer – unabwendbare Reparaturen fallen an, allein das Lackieren würde ihn, nach der gegenwärtigen inflationärer Währung (noch vor der Währungsreform im Dezember 1924 zum Schilling) zehn Millionen Kronen kosten, berichtete er an Olga. Der hölzerne Teil der Veranda verfiel, so dass Schnitzler ihn durch Mauerwerk ersetzen ließ. Von einem Glasdach war er aus Kostengründen abgekommen.
1926 ließ Schnitzler weitere Veränderungen am Haus vornehmen, und als er im September von einer mehrwöchigen Schweiz-Reise heimkehrte, war sein Arbeitszimmer um einen Erker erweitert worden, was ihn sehr entzückte: „das vergrößerte Zimmer ist eine reine Freude“, schrieb er an Olga, „ich habe gewiß 2-3 Lichtstunden im Tag gewonnen, und die Landschaft, das Stadtbild präsentiert sich in dem Schiebefenster-Rahmen schöner als je. (…) Auch das fließende kalte u warme Wasser ist eine Lebenserleichterung.“
Er hatte das Hotelleben nach langer Abwesenheit gründlich satt und genoss die Häuslichkeit in seinen vier Wänden. Allerdings übte seine nunmehrige „feste“ Gefährtin, die Schriftstellerin Clara Katharina Pollaczek, die bei ihm aus- und einging, genau so viel Druck aus wie Olga, und dies perpetuierte Schnitzlers private Tragödie, die dann 1928 im Tod seiner Tochter Lili kulminierte.
Währing als Schnitzlers Umfeld spielte auch eine Rolle bei einer Vorliebe, die er sehr früh entwickelte, wie er übrigens –Peter Michael Braunwarthführt das in seinem Artikel „Dr. Schnitzler geht ins Kino“ aus – stets ein Vorreiter bei technischen Neuerungen war. Wir wissen bereits, dass er zu den ersten Wiener Radfahrern gehörte. Er hatte einen der ersten Wiener Telefonanschlüsse. Er benützte das Rohrpost-Service, sobald es angeboten wurde, zeigte sich von der Schallplatte fasziniert, hatte zwar selbst kein Auto, benützte es aber gern, und er zeigte keinerlei Angst vorm Fliegen. Sein Interesse an der Fotografie, dann an den bereits erwähnten Angeboten des „Panoramas“ mündeten in sein doppeltes Interesse am Film: Schon zu seinen Lebzeiten kamen viele seiner Werke auf die Leinwand, und Schnitzler wurde ein geradezu leidenschaftlicher Kinobesucher. Das hatte auch mit seiner Schwerhörigkeit zu tun, die ihm Oper und Theater vergällte: Im Stummfilm war er, der sonst „Behinderte“, wieder ein vollwertiger Partner des Gebotenen…
Er ist allerdings nicht nur in die Währinger Kinos gegangen, wenn er auch das Iris-Kino und das Gersthofer Kino immer besuchte. Aber er war es gewöhnt, „in die Stadt“ zu fahren, und er absolvierte dort viele Kinobesuche, blieb aber etwa auch in der Nähe, im Neunten Bezirk (Votiv-Kino, Kolosseum-Kino). Wichtig waren ihm die Filme, nicht die Nähe des Gebotenen. Er hätte es wohl kaum auf über 650 Kinobesuche zwischen 1910 und 1931 gebracht, wenn er sich auf das Angebot in Währing beschränkt hätte…
Dennoch: Dass Schnitzler nicht nur Wiener, sondern auch spezifisch ein „Bürger von Währing“ war, zeigt sich in Großem und Kleinem: Im November 1918 hat er in den Umsturztagen, als man mit „Ausschreitungseventualitäten im Cottage“ rechnete, er einen öffentlichen Aufruf an die „Bürger von Währing u Döbling“ mit unterzeichnet, eine Schutzwache für diese Bezirke zu bilden – schließlich hatte er eine Familie, die möglicherweise bedroht war.
Aber Bürgerrechte äußern sich auch im Trivialen des Alltags, wie ein Brief zeigt, den er am 12. Juni 1926 an das Polizeikommissariat des 18. Bezirks schrieb: Darin beschwerte er sich darüber, dass im Cottage verschiedene Hausbewohner zu jeder beliebigen Tageszeit, am liebsten in den Nachmittags- und Abendstunden, ihre Teppiche und auch Möbel ausklopften. Da er gerade zu dieser Zeit und im Sommer natürlich bei offenem Fenster zu arbeiten pflegte, fühlte er sich belästigt – zumal vom Nachbarhaus Sternwartestraße 73, wo man seinem Ersuchen, dies bleiben zu lassen, nicht nachkam. Ob Schnitzlers Intervention beim Polizeikommissariat Folgen zeitigte, geht zumindest aus dem Tagebuch nicht hervor.
Letzte Fotos von Arthur Schnitzler zeigen den schon sehr alt wirkenden Mann in seinem Haus. Sohn Heini fotografierte den Vater am 25. Juni 1931 mit Elisabeth Bergner im Garten – die schöne, verführerische Nymphe und der lächelnde alte Herr. Wohl auch damals entstanden die letzten Fotos von Schnitzler in seinem Wohnzimmer, vor dem Fenster auf dem Sofa liegend, oder alte Mann mit Stock in seinem Garten.
Das allerletzte Foto ist wohl das tragischste: Es zeigt, wie Arthur Schnitzlers Sarg aus seinem Haus getragen wird. Die Männer haben eben das Gittertor verlassen – groß prangt die Hausnummer „71“ im Bild. Hier hatte Schnitzler gelebt, hier war er am 21. Oktober 1931 zusammengebrochen und gestorben, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben.
Dieser Artikel basiert
auf den Tagebüchern von Arthur Schnitzler,
seiner Autobiographie „Jugend in Wien“,
den Briefwechseln mit Richard Beer-Hofmann, Georg Brandes, Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten, Olga Waissnix
sowie den zwei großen Schnitzler-Briefbänden,
dem Katalog zur Schnitzler-Ausstellung von 1981.
Desgleichen dem Band „Schnitzler und der Film“ des Wiener Filmmuseums,
dem Bildband über Schnitzler aus dem Brandstätter Verlag
und der Schnitzler-Biographie der Autorin.
Dazu kommt Sekundärliteratur über Wien im allgemeinen und Währing im besonderen.
Vor allem verdankt diese Betrachtung über „Schnitzler in Währing“ unendlich viele Fakten und Anregungen Herrn Professor Peter Michael Braunwarth, dem Mitherausgeber der Schnitzler-Tagebücher, der sein unendliches Schnitzler-Wissen nicht nur besitzt, sondern auch zu teilen bereit ist, wofür ihm die Autorin von ganzem Herzen dankt.