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ARTHUR SCHNITZLER IN WÄHRING

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Arthur Schnitzler in Währing

Eine wienerische Topographie

Von Renate Wagner

Jeder sorgliche Biograph wird darauf achten, wo der Mensch, den er sich zu schildern vornimmt, lebt. Genauer noch: Wo er wohnt, denn das Wohnen ist ebenso ein essentieller Teil des Lebens wie der Lebensqualität. Wo man wohnt, ist in den meisten Fällen, wenn nicht äußere Zwänge walten, eine bewusste Entscheidung – und wenn es keine ist, dann mag auch dies von signifikanter Aussagekraft sein.

Wenn der Dichter Arthur Schnitzler nahezu die letzten dreißig Jahre seines knapp 70jährigen Lebens in Währing, diesem grünen Außenbezirk Wiens, zugebracht hat, so mag das teilweise auf Zufällen beruhen, wurde aber von ihm in vollem Maße angenommen. Und dieser sein Wohnort hat ganz ohne Zweifel sein Leben in dieser Epoche bedeutend beeinflusst.

Will man auf Arthur Schnitzlers Spuren im vollen Wortsinn wandern, hat er selbst der interessierten Nachwelt, die spezifisches Interesse an ihm nimmt, neben seinem Werk noch einige mehr als wertvolle biographische Hilfsmittel in die Hand gegeben, vor allem sein Tagebuch. Es gibt große Tagebuchschreiber – Thomas Mann oder Theodor Herzl waren solche -, aber es gibt kaum Vergleichbares zu dem „lebensbegleitenden Werk“, das Schnitzler hinterließ. Allein die Disziplin, die es bedeutet haben muss, von früher Jugend an Tag für Tag das Wesentliche zu notieren, das sich ereignet hat, nötigt Bewunderung ab. Dazu kommt die Vielschichtigkeit dieses Tagebuchs, das er benutzte, wie er es gerade wünschte – für kalendarischen Eintrag von Fakten, für grundsätzliche Analysen äußerer Ereignisse, für die Schilderung und Hinterfragung der eigenen Seelenzustände.

Von gleichem Wert, oft noch wertvoller sind die Briefe, da sie den Autor nötigten, einen anderen Menschen anzusprechen, also jedenfalls klar zu formulieren, wofür ihm im Tagebuch eine Chiffre reichen mochte. Jedenfalls kann man auf eine Menge Material aus erster Hand zurückgreifen, das ein Stück Existenz umreißt – und wo das Thema „Wohnen“ zum Thema Leben wird.

Man sagt gerade den Wienern besondere Sesshaftigkeit nach, den Unwillen, ihre Stadt zu verlassen – selbst noch in einem Zeitalter wie dem unserem, wo Mobilität als besondere Qualität gepriesen wird. Dabei geht die Wien-Treue der Wiener noch über die Stadt hinaus: Vielen wird nachgesagt, sie würden nicht einmal ihren Bezirk verlassen wollen. Ingeborg Bachmann setzte dem „Dritten“ mit ihrem „Ungargassenland“ ein literarisches Denkmal – so, wie die Topographie Wiens sich ja auch in Arthur Schnitzlers Werk vielfach spiegelt.

 

Schnitzlers Wien: Die Stadt im Werk

In Schnitzlers Fall sind es nicht die realen Wohnorte, die sich mit seiner Person verbinden, sondern eher jene „stimmungsbildenden“ Wien-Elemente, die man aus seinem Werk holt – wobei der Dichter lebenslang an den Klischees litt, die Kritik und Öffentlichkeit mit leichter Hand an ihn hefteten, als schilderte er ein geträumtes, ideales Wien. Tatsächlich ist es aber natürlich das „echte“ Wien, das sein Werk reflektierte – es gab die Luxuswohnungen an der Ringstraße, wo seine Helden wie Anatol oder vermutlich auch ein Fabrikant wie Hofreiter („Das weite Land“) wohnten, selbstverständlich in Wirklichkeit – auch Schnitzler lebte eine Zeitlang in solchen. Die Vorstadtwohnungen, in denen die „süßen Mädeln“ ihr ärmliches Dasein fristeten (bestenfalls wie Christine in der „Liebelei“ mit einem Blick auf den Kahlenberg und einer Schubert-Büste belohnt), existierten desgleichen. Und man traf sich als „besserer junger Herr“ mit der armen Freundin „an der Linie“, dem Linienwall (heute der U-Bahn-„Gürtel“ der Stadt), wenn man von seinen Bekannten nicht gesehen werden wollte. Wer es sich leisten konnte, ging wie Anatol im Sacher und in anderen Lokalen ins „Chambre separée“, wo sich die Kellner irgendwann diskret zurück zogen und das Paar nach dem Souper zu anderen Aktivitäten schritt. Man unterhielt sich im Prater, man besuchte die Theater – die einen die Logen, die anderen die Galerie mit den billigen Sitzen. Für die Dichter waren die Kaffeehäuser zweites Zuhause, für die Reichen die Rennbahnen und Luxushotels und –Restaurants.

Allein, wenn Arthur Schnitzler im „Reigen“ zehn Personen auf die Bühne bringt (und jeweils sexuell verschränkt), durchschreitet er die meisten sozialen Schichten der Stadt – und benützt die entsprechenden Schauplätze: unter der Augartenbrücke ebenso wie im Prater, wo man den Radau von den Vergnügungslokalen hört, das Zimmer eines jungen Herren in der zweifellos eleganten väterlichen Wohnung, einen Salon in einer Wohnung, die wohl nur für Seitensprünge benützt wird, das Schlafzimmer eines großbürgerlichen Paares, ein Cabinet particulier im Riedhof, ein „Dichterzimmer“ mit Schreibtisch und Piano, ein Zimmer in einem Gasthof am Lande, das zweifellos pompöse Schlafzimmer einer Schauspielerin und das schäbige Kammerl, in das die Nutte ihre Verehrer mitnimmt, die oft schon so betrunken oder benommen sind, dass sie erst nach dem Erwachen wahrnehmen, wie sie „geslummt“ haben – wenn sie denn ein Graf sind: Die Topographie Wiens in einem einzigen Werk. 

 

Der „geborene“ und „gestorbene“ Wiener

uch Schnitzler hat Wien ohne Frage die Treue gehalten, wobei er innerhalb seines Freundeskreises einer der „geborenen“ Wiener war – und das war gar nicht so häufig, wie man glauben sollte. Vergleichen wir doch die Geburtsorte von Freunden und berühmten Zeitgenossen: So kamen Felix Salten und Theodor Herzl in Budapest zur Welt, Gustav Mahler und Karl Kraus in Böhmen, Sigmund Freud in Mähren. Sie alle kamen erst im Laufe ihrer Jugend, entweder mit den Eltern, die wegen der Erziehung und Zukunft der Söhne in die Kaiserstadt zogen, oder zur Ausbildung nach Wien. Im Falle von Schnitzlers Freunden Hugo von Hofmannsthal, der seine jüdischen Wurzeln am liebsten in Vergessenheit geraten lassen wollte, oder Richard Beer-Hofmann, der im Gegensatz zu Hofmannsthal ein tief überzeugter Jude war, waren schon die Vorfahren nach Wien gekommen. Jedenfalls war die „Kaiserstadt“ das Sammelbecken für die Juden im Habsburger-Reich, Hoffnungsort vor allem im Zeitalter von Kaiser Franz Joseph, der seine schützende Hand über diese Bevölkerungsgruppe hielt. Es war das Jerusalem der Monarchie, für die Juden eine Stadt der „unbegrenzten Möglichkeiten“, trotz des starken Antisemitismus, der sich vor allem rund um den Bürgermeister Karl Lueger sammelte. In einer liberalen Leistungsgesellschaft zählte noch die Leistung – und Schnitzlers Vater war das beste Beispiel dafür.

Dieser Johann Schnitzler kam, noch in einem ungarischen Dorf geboren, 23jährig nach Wien, um dort eine so rasante Karriere als Arzt, Spezialfach Laryngologie, zu machen, dass seine Söhne Arthur und Julius sowie Tochter Gisela schon mit allen Vorzügen einer großbürgerlichen Umgebung auf die Welt kamen.

Und, um nun den großen Sprung zu wagen und die Lebenslinien zu schließen – wer außer Schnitzler „erlebte“ die „Gnade des rechtzeitigen Todes“, wie wir es nennen wollen, und starb denn noch in Wien, unbehelligt von dem Grauen, das durch die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten über die jüdische Bevölkerung kam?

Theodor Herzl, früh durch Krankheit hinweggerafft, starb 1904 (am Semmering),
Gustav Mahler, ausgelaugt von einem Dasein permanenter Überarbeitung, 1911 in Wien,
Peter Altenberg, auch ein gebürtiger Wiener (1859), an seinem exzessiven Leben 1919,
Kollege Felix Dörmann, auch ein gebürtiger Wiener (1870) starb früh 1928 in Wien,
Hugo von Hofmannsthal, durch die Erschütterung nach dem Selbstmord seines Sohnes selbst zu Tode gekommen, 1929.

Arthur Schnitzler, der seinen Teil am österreichischen Antisemitismus reichlich mitbekommen hatte und in seinen letzten Lebensjahrzeiten (besonders seit den „Reigen“-Skandalen in den zwanziger Jahren) immer heftiger angegriffen worden war, starb 1931, noch ohne unmittelbare krasse Gefahr für seine Existenz und sein Leben.

Das Leben von Karl Kraus endete noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1936 in Wien.

Kurz nach dem Anschluss beendete Egon Friedell 1938 durch einen Sprung aus dem Fenster seiner Wohnung in der Währinger Gentzgasse sein Leben, um dem zu entgehen, was ihn erwartete.

Schnitzlers Bruder Julius starb am 29. Juni 1939 und wurde im Grab von Bruder Arthur auf dem Zentralfriedhof begraben. Seine Familie ging in die Emigration, ebenso wie Arthur Schnitzlers Sohn mit Frau und Kind.

In die Emigration getrieben:
Sigmund Freud starb 1939 in London
Schnitzlers Schwager Markus Hajek 1941 in London,
Felix Salten 1945 in Zürich
Richard Beer Hofmann 1945 in New York
Raoul Auernheimer, „gebürtiger Wiener“ (1876),  1948 in Kalifornien.

Kurz, es war für Schnitzler und seine Zeitgenossen jüdischer Abstammung durchaus nicht obligatorisch, unbehelligt durch ihr Leben zu kommen, dieses Leben als Wiener und Österreicher zu führen, sich ihrer Assimilation sicher sein zu können. Schnitzlers Bücher wurden verbrannt, seine „Liebelei“ später von nationalsozialistischen Wissenschaftlern etwa als der jüdisch-tückische Versuch klassifiziert, sich in der Maske des Volksstücks in den ihnen fremden Volkskörper zu schleichen…

Doch so wie Gustav Mahler sich selbst einmal als „eingefleischter Wiener“ bezeichnet hat, mag das wohl auch für Arthur Schnitzler gelten, ohne dass er es je explizit formulieren musste: Er war Wiener, er fühlte sich hier zugehörig, und seine Distanz zu den schlechten Eigenschaften der Wiener ist eine Haltung, an der man stets die besten Wiener erkannt hat.

 

Der Weg nach Währing –
Die Geschichte eines sozialen Aufstiegs anhand von Adressen –
vom Zweiten in den Ersten in den Neunten  in den Achtzehnten…

Erste Station: Der Juden-Bezirk – die Leopoldstadt

Juden, die nach Wien kamen, landeten meist im Zweiten Bezirk, der Leopoldstadt, die dann ein Sammelbecken für die Ärmeren unter ihnen war und blieb, während jene, die es sozial „schafften“, weiter zogen – wie die Schnitzlers. Immerhin war das Haus Jägerzeile 16, ganz in der Nähe des Donaukanals gelegen, keine schlechte Adresse. Interessant übrigens, dass Schnitzlers Autobiographie, die von seinem Sohn posthum unter dem Titel „Jugend in Wien“ herausgebracht wurde, umweglos mit einer topographischen Angabe beginnt, die Schnitzler als „Wiener“ festschreibt:

„Zu Wien in der Praterstraße, damals Jägerzeile geheißen, im dritten Stockwerk des an das Hotel Europe grenzenden Hauses, kam ich am 15. Mai 1862 zur Welt.“

Der nicht weit entfernte Nordbahnhof war jener Eckpunkt von Wien, wo viele aus dem Osten kommenden Juden die Stadt betreten haben – vielleicht Johann Schnitzler, der aus Groß-Kanizsa gebürtig war, vielleicht auch Jahrzehnte vor ihm Dr. Philipp Markbreiter, sein Schwiegervater. Mochte Schnitzler den Großvater mütterlicherseits in seinen Erinnerungen auch als„Sohn oder Enkel eines Wiener Hofjuweliers“ bezeichnen, so hat er das sicherlich geglaubt – vielleicht wurde da in der Familie schon etwas beschönigt. Tatsächlich stammte auch Philipp Markbreiter aus Ungarn, der Ort Ragendorf lag im Wieselburger Komitat.

Wie groß der Sprung aus der ungarischen Provinz in die Kaiserstadt Wien war, schildert Schnitzler in seinen Erinnerungen. Nur einmal, mit fünf oder sechs Jahren, erinnert er sich, sei er nach Groß-Kanizsa, die Heimatstadt des Vaters, gekommen: „Ein Hof mit Hühnern, ein Bretterzaun, in dessen nächster Nähe die Eisenbahn vorbeilief, der in der Ferne verhallende Pfiff einer Lokomotive…“ Immerhin zeugt es von der Willensstärke seines Vaters, eine Welt, die wohl das Schicksal der meisten hier Geborenen ungefragt bestimmte, so entschlossen hinter sich zu lassen und zur großen Karriere in die große Stadt aufzubrechen.

Jedenfalls leitet sich Schnitzlers Herkunft väterlicherseits aus dieser ungarischen Stadt her. Und auch Amalie Schey, die Frau, die Philipp Markbreiter heiratete, kam aus Westungarn, aus Guens (der deutsche Name der Stadt Köszeg). Die Familie Schey hatte viele „Zweige“, wie es bei den kinderreichen jüdischen „Dynastien“ möglich war (man denke an die Rothschilds). Die ganz reichen, geadelten Verwandten, die Schey von Koromla (die übrigens auch mit den Rothschilds verwandt waren), hatten dann eine Adresse wie jenes Palais Schey (am Opernring 10, hinter dem Goethe-Denkmal), die ein „Dichter“ wie Schnitzler lebenslang nicht hätte verdienen können. Da musste man Bankiers, Magnaten und Industrielle sein wie die Scheys.

Sie kann man ebenso als Beispiele für das arrivierte Judentum der Monarchie nehmen wie die „Professoren“ – der Arzt-Großvater, der Arzt-Vater, der Arzt-Bruder, der Arzt-Schwager, die Arthur Schnitzler umgaben, der selbst Arzt nur aus Tradition, nicht aus Neigung geworden war und den Beruf gleich nach dem Tod des Vaters, in dessen Fußstapfen als Laryngologe er mehr nolens als volens getreten war, hinter sich ließ.

Die Jägerzeile, die in Schnitzlers Geburtsjahr 1862 in die Praterstraße „aufging“, war durchaus eine noble Gegend, nicht jener Teil der Leopoldstadt, der seit langer Zeit die Bezeichnung „Mazzes Insel“ trug und wo die ärmsten Juden aus den östlichen Gebieten der Monarchie sich zuerst niederließen, oft bei Verwandten, voll Hoffnung auf eine neue, bessere Existenz. Den orthodoxen Juden in ihrer unverwechselbaren Kleidung und Haltung wird Schnitzler damals schon begegnet sein (öfter als später in seinem Leben, da sie sich vor allem in der Leopoldstadt aufhielten), aber er erinnert sich in seiner Autobiographie auch an die glanzvollen Pferderennen und Blumencorsos, kurz an die „große Welt“, die via Praterstraße in den Prater strömte.

Und die Großeltern mütterlicherseits, die ja nun viel länger in Wien waren als der Vater, wohnten auch noch in der Leopoldstadt, tatsächlich nur wenige Schritte von seinem Geburtshaus entfernt. Dort stand das Carltheater, das schon frühzeitig – nämlich 1847, als von der „Ringstraßenzeit“ noch keine Idee war – wie ein protziger Ringstraßenbau ausgeführt worden war, denn seine Architekten hießen August Sicard von Sicardsburg und Eduard van der Nüll, die späteren unglückseligen Erbauer der Hofoper. Es war, als Nachfolgebau des schlichten „Leopoldstädter Theaters“, in dem Raimund gewirkt hatte, eine Stätte der Triumphe von Johann Nestroy gewesen – Nestroy, der am 25. Mai 1862 in Graz starb, zehn Tage, nachdem Arthur Schnitzler geboren war. Hier, in der nahe gelegenen Johann Nepomuk-Kirche hat man Nestroy eingesegnet, und hier, in dem Theater, in dem auch er gewohnt hatte, lebten die Markbreiter-Großeltern in einer der Wohnungen, die – völlig ungewöhnlich und undenkbar für uns, in einem Theatergebäude zu wohnen! – sich darin befanden.

Dass der zwei- oder dreijährige Arthur Schnitzler aus dem Fenster der großelterlichen Wohnung einen Operngucker auf die Straße warf, hat man ihm später als ein symbolisches Ereignis für eine künftige Theaterkarriere berichtet. Tatsächlich sah man von der Wohnung der Großeltern auf ein Glasdach hinunter, das einen Hof bedeckte, in dem die Schauspieler, von ihren Garderoben kommend, herumwanderten. Und dass Klein-Arthur einen Schauspieler in Altwiener Tracht, mit einer Butte am Rücken, gesehen haben will, hat er zumindest in seinen Erinnerungen geschrieben – das könnte wohl ein „Wurzel“ gewesen sein, Raimunds Bauer als Millionär in seiner Eigenschaft als „Aschenmann“… auch die Umwelt bestimmt das Bewusstsein. Schon zu Nestroys Zeiten hat man im Carl-Theater viel Offenbach gespielt: Hier sah der kleine Arthur mit „Orpheus in der Unterwelt“ seine erste Operette.

Als die Großeltern übersiedelten, blieben sie in der Leopoldstadt, wanderten nur ein paar Häuser weiter in die Circusgasse, die es heute noch gibt, in das Haus Nr.2. Auch „die meisten anderen Verwandten wohnten ganz in der Nähe, im gleichen Bezirk“, berichtet Schnitzler.

Nur seine Eltern hatten die Wohnung in der Praterstaße „bald verlassen“ und zogen, als Schnitzler vier oder fünf Jahre alt war, auf die Schottenbastei: Ein Knabe, Emil benannt, wurde zwei Jahre nach Schnitzler geboren und starb wieder, die Geschwister Julius und Gisela kamen 1865 und 1867 zur Welt, also zu jener Zeit, als man sich in Richtung Innere Stadt bewegte.

 

Zweite Station: Das Nobelviertel – die Innere Stadt

Die Schottenbastei, keine Bastei mehr, sondern „nur“ eine Straße, die auf die Mölker Bastei stieß (der man das ehemalige Bastei-Dasein bis heute ansieht), nahm die Familie Schnitzler nur vorübergehend auf.

Etwa um 1868“, Schnitzler war also sechs Jahre alt, setzt er die Übersiedlung in die Giselastraße 11 an, die dann 1919 nach dem Klavierfabrikanten Ludwig Bösendorfer benannt wurde und noch heute so, nämlich Bösendorferstraße, heißt. Es handelte sich bei dem Haus um einen jener Ringstraßenbauten, deren Vorderseite auf die neue Prachtstraße hinausging, die Rückseite auf die Giselastraße. Wobei ein ganz kurzer Exkurs zu dem Namen erlaubt sei: Die Giselastraße hieß damals natürlich nach der ungarischen Königin des 10. Jahrhunderts, die eine gebürtige Bayernprinzessin gewesen war. Aber es war wohl kein Zufall, dass die am 12. Juli 1856 geborene Tochter von Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth Gisela hieß – und dass die Schnitzlers ihre einzige, elf Jahre später geborene Tochter so wie diese Erzherzogin nannten. Assimilation bedeutete auch, sich von Vornamen zu verabschieden, die noch als spezifisch jüdisch galten – keiner der Söhne (Arthur, der verstorbene Emil, Julius) bekam einen Namen, der (wie es Moses, Nathan, Isaak, Salomon oder auch Moritz getan hätte) auf ihre Herkunft deutete.

Es war ein Teil des Aufstiegs des Judentums, sich von seiner Herkunft abzukoppeln, so wie die Adressen zeigten, dass man nicht mehr im „Judenviertel“ daheim war. Das Haus in der Giselastraße gab Professor Johann Schnitzler für seine Privatpraxis die Nobeladresse Kärntnerring 12 auf der „Vorderseite“, während man auf der rückwärtigen Giselastraße 11 direkt dem eben eröffnete Künstlerhaus gegenüber lag und schräg vis à vis dann, per Adresse Giselastraße 12, der von Theophil Hansen erbaute und 1870 eröffnete Musikverein lag (das Gebäude brannte gleich nach seiner Eröffnung, was dem siebenjährigen Arthur natürlich lebhaft in Erinnerung blieb).

Auch fast gegenüber lag das Nobelgebäude am Kärntnerring 16, damals noch das Privatpalais des Herzogs Philipp von Württemberg. Es verwandelte sich 1873 anlässlich der Weltausstellung zum Hotel Imperial, als welches es noch heute seine imperiale Würde verstrahlt. Aber zu diesem Zeitpunkt waren die Schnitzlers schon wieder weiter gezogen – blieben aber immer im Ersten Bezirk, bei den Nobeladressen.

Burgring 1 – dort, wo Burgring und Opernring zusammen stoßen, wuchsen die machtvollen Ringstraßenbauten. Eine „schöne Wohnung“, wie Schnitzler sich erinnerte, „gegenüber dem so genannten Kaisergarten, in der wir unter allmäliger Ausbreitung über das ganze Stockwerk bis zum Tode des Vaters 1893 verblieben.“ Es war die ideale Adresse für den Papa: Nun war das Burgtheater ebenso nahe wie das Opernhaus, und Sänger wie Schauspieler benötigten die Dienste des mittlerweile weit über die Stadt hinaus bekannten Larynglogen Dr. Schnitzler, der für seinen einfühlsamen Umgang mit nervösen Künstlerpersönlichkeiten bekannt war.

Arthur Schnitzler allerdings wuchs heran und drängte aus der elterlichen Wohnung heraus. Der Medizinstudent, der einen kontrollierenden und kritischen Vater nicht immer im Nacken haben wollte, ist zweifellos ausgezogen – schließlich waren ein hoffnungsvolles Literatenleben und schier unzählige Mäderlgeschichten möglichst nicht unter den Augen der Eltern abzuhandeln. Allerdings verzeichnet der „Lehmann“, Wiens offizielles Adressenverzeichnis (das allerdings meist erst nach einem, oft erst nach zwei Jahren auf Änderungen reagiert) Arthur Schnitzler erst 1888 mit der eigenständigen Adresse „Alserstraße 4“. 

Da war er schon seit einiger Zeit (er hatte am 30. Mai 1885 zum „Doktor der gesamten Heilkunde“ promoviert) gewissermaßen selbständig. Und so findet sich seine Adresse innerhalb des Allgemeinen Krankenhauses. Man war mitten im Ärzteviertel – in der Alserstraße waren auch Theodor

Billroth oder Johann von Oppolzer, hochrangige Kapazitäten ihrer Epoche, anzufinden.

Dann wohnte Schnitzler durch Zufall ab 3. Dezember 1889 wieder in der Giselastraße 11, wie er fast mit Erstaunen in seiner Autobiographie feststellte – „dasselbe Haus, sogar, irre ich nicht, in die gleichen Zimmer, von denen ich einige im Beginn der neunziger Jahre als junger Arzt wieder bewohnen sollte“.

Am 15. Oktober 1892 übersiedelte er in die Grillparzerstraße 7, ein Neorenaissancegebäude. Es sind die Jahre, in denen er rasend in die hübsche junge Schauspielerin Marie Glümer verliebt ist und sich und ihr durch seine Eifersucht die Hölle bereitet…

 

Dritte Station: Das Ärzteviertel – der Alsergrund

Mit dem Quartier in der Alserstraße hatte Schnitzler schon den Ersten Bezirk (und das beengende Elternhaus) verlassen, wenn er sich auch noch nicht weit davon entfernte. Nach dem Tod des Vaters, als Schnitzler längst seine eigenen Wohnungen hatte, änderte sich die Situation. Die Mutter konnte, obwohl ihr Lebensstandard auch für den Rest ihrer Jahre nicht in Frage stand, natürlich das Stockwerk in der Burggasse 1 nicht halten. Tochter Gisela war bereits verheiratet, Sohn Julius verlobt, so blieb Arthur als jener Sohn, der die Verpflichtung, sich um die Mutter zu kümmern, auch durch räumliche Nähe erfüllen konnte.

Es ist bemerkenswert, dass er wenige Tage nach dem Tod des Vaters in seinem Tagebuch notierte, er habe am „Burgring“ geschlafen – vermutlich aus keinem anderen Grund, als die Mutter in dieser Situation nicht allein zu lassen. Zweifellos wurden nun Überlegungen über Übersiedlungen angestellt. Es dauerte allerdings noch eine Weile.

Die Mutter ist in der Obhut der Kinder, Tochter Gisela verreist mit ihr, man soupiert mit ihr in Lokalen, es gibt keine Vereinsamung. Und am 14. November 1893 notiert Schnitzler lapidar: „Umzug“. Schwer vorstellbar, dass ein so wichtiger Schritt im Leben dermaßen unkommentiert bleibt – am 15. November heißt es „Erster Tag Frankgasse“, am 16. „Räumereien“, am 18. November „Erste Patientin in Frankgasse“, einen ausführlicheren Kommentar ist ihm dieser örtlich neue Abschnitt seines Lebens nicht wert.

Wiens Adressbuch, der „Lehmann“, verzeichnet (allerdings mit Verspätung, erst ab 1895) sowohl den Dr. med. Arthur Schnitzler wie auch seine Mutter, Louise, als Regierungsratswitwe und Professorenwitwe doppelt gekennzeichnet, getrennt unter der Adresse „Frankgasse 1“, (ein  großes, vielstöckiges Ringstraßengebäude hinter der Votivkirche). Aber es bleibt die Frage offen, ob Mutter und Sohn wirklich zwei getrennte Wohnungen bezogen oder ob einfach beide in einer Adresse gemeldet waren. Diese „Louise Schnitzler“ hatte es, solange ihr Mann lebte, im Adressbuch nie „gegeben“. Für die Zeit, die sie nach Johann Schnitzlers Tod noch am Burgring wohnte, mutierte sie gewissermaßen zur eigenständigen Persönlichkeit – zumindest als „Gemeldete“.

Wir können nicht mehr entscheiden, ob Mutter und Sohn in einer Wohnung lebten, was zumindest für ihn ein evidenter Vorzug gewesen wäre – denn die Mama, die Professorenwitwe, hatte jedenfalls eine Köchin für die Mahlzeiten und ein Stubenmädchen für Garderobe und Handreichungen aller Art, möglicherweise noch mehr Personal, das sich der junge Arzt (trotz der Erbschaft von Seiten des Vaters) vermutlich nicht leisten konnte. Gewiss konnte der Sohn die Angestellten der Mutter auch in einer anderen Wohnung im Haus in Anspruch nehmen, und zu Mahlzeiten und gemeinsamem Klavierspiel fand er sich ohnedies bei ihr ein – aber von einem ökonomischen Standpunkt wären zwei getrennte Wohnungen vermutlich eine ungünstigere Lösung gewesen. Wie dem auch sei – es wird kaum zu eruieren sein, ob Schnitzler ab 1893 in der Frankgasse 1 bei, mit oder neben (bzw. ober oder unter) seiner Mutter wohnte.

Aber etwas riss nie ab, auch als dann durch den Umzug in die Spöttelgasse die wahre Entfernung zwischen Mutter und Sohn (der nie ein Mutter-Sohn war) stattfand: Sie spielten vierhändig Klavier, und das, wie man annehmen kann, mit großer Meisterschaft. Schnitzlers musikalisches Talent, das auf seinen Sohn Heinrich (gleichfalls ein hervorragender Klavierspieler, wenn auch nicht so großartig wie sein Freund Rudolf Serkin) und seinen Enkel Michael (der eine große Karriere als Orchester- und Kammermusiker machte) übergegangen war, kam von Louise Schnitzler. Und das gemeinsame Spiel am Klavier schmiedete sie und den Sohn zusammen, schien eine Art Bedürfnis zu sein: Es ist bewundernswert, wie die beiden vor keiner Wagner-Oper und keiner Mahler-Symphonie Halt machten, wie kein Stück Kammermusik ihnen zu schwierig war, welch ungeheure Kenntnis des klassischen Repertoire sie mitbrachten. Schnitzler hat denn auch in den Klavierauszügen, von denen sich so mancher noch in Besitz der Familie (seines Enkels Michael Schnitzler) befindet, das Datum und den Partner notiert, mit dem er das Werk gespielt hat – das konnte neben der Mutter später auch (wenn auch seltener) Olga, dann Sohn Heini oder ein Freund wie der Musiker Victor Zuckerkandl sein.

Schnitzler nahm nun hier, im Ärzteviertel (Bruder Julius wohnte in der Schwarzspanierstraße 6, gerade ein paar Schritte entfernt), seine Privatpraxis auf. Allerdings nur für kurze Zeit: Der Vater war jene unübersehbare Macht und auch Hürde im Leben des Sohnes gewesen, die es für ihn unmöglich gemacht hätte, den Arztberuf hinter sich zu lassen. Nun, da Johann Schnitzler tot war und Arthur sich, jetzt 31jährig, mehr und mehr als Schriftsteller, als Dichter verstand, der beabsichtigte, vom Schreiben zu leben, da ließ er diese Praxis langsam auslaufen (ohne dass man einen exakten Zeitpunkt dafür angeben könnte). Dennoch lebte er die nächsten zehn Jahre hier. Von der Frankgasse waren es übrigens nur wenige Schritte bergab zu jener Adresse, wo Sigmund Freud und seine Familie im September 1891 eingezogen waren, „Berggasse 19“ – was zu einer der legendärsten Adressen Wiens werden sollte, bis zum heutigen Tag.

Es war übrigens keiner der Ärzte dieser Zeit, der in der Frankgasse Arthur Schnitzlers unmittelbarer Nachbar sein sollte, sondern Max Burckhard, damals schon Direktor des k.k. Hofburgtheaters und als solcher für den Dichter von allergrößter Bedeutung, da er es war, der ihm die Tore dieser wichtigsten Bühne des deutschen Sprachraums öffnen sollte – und das nur zwei Jahre später.

1893 war für Schnitzler nicht nur durch den Tod des Vaters und den Umzug ein wichtigstes Jahr – im Dezember 1893 stand am nahe gelegenen Deutschen Volkstheater die erste Uraufführung eines abendfüllenden Stücks aus seiner Feder in einem großen Theater Wiens an, und als Hauptdarstellerin von „Das Märchen“ stürmte mit Adele Sandrock die erste Diva in das Leben des Dichters, das bis dahin mit wenigen Ausnahmen (der großen „Seelen“-Liebe Olga Waissnix) vor allem von „süßen Mädeln“ erfüllt gewesen war…

 

Wer wohnte wo 1902 in Wien?

Bis Schnitzler 1903 nach Währing zog, blieb er also in der Frankgasse. Es gibt aus dem Jahre 1902 ein bemerkenswertes Nachschlagewerk, ein schmales, aber mit 620 Seiten recht gewichtiges Buch, das sich „Deutsch-österreichisches Künstler- und Schriftsteller-Lexikon“ nennt, Herausgegeben von Herm. C. Kosel, erschienen Wien 1902, VI. Gumpendorferstraße 87. Geordnet ist es nach „Architekten“, „Bildende Künstler“, „Darstellende Künstler“, „Schriftsteller, Schriftstellerinnen und Journalisten“ sowie „Tondichter und Musiker“ – kurz, ein ganz wichtiges Who is Who dieses geistigen „Wien um 1900“. Für die Nachwelt ist dieses Verzeichnis auch deshalb interessant, weil hier Leute, deren Namen niemand mehr kennt, in aller Ausführlichkeit spaltenweise besprochen werden, und andere, die weit über ihren Tod hinaus den Sprung ins allgemeine Bewusstsein geschafft haben, in kurzen Worten abgefertigt werden. Und bei jedem Namen steht die damalige Wiener Adresse…

In diesem Buch also finden wir nicht nur auf Seite 452 „SCHNITZLER, Arthur, Dr. med., IX. Frankgasse 1“, sondern auch zahlreiche seiner dichtenden Zeitgenossen, sowohl seine Freunde und Bekannten wie auch jene, die nur gelegentlich seine Wege kreuzten.

Will man sich den Spaß machen, ein wenig zu blättern, so liest sich das in der dicksten Rubrik, jener der Schriftsteller, so:

Altenberg, Peter, IX., Währingerstraße 3

Auernheimer, Raoul, IV., Starhemberggasse 26

Bahr, Hermann, XIII., Veitlissengasse 5a

Beer-Hofmann, Richard, I., Wollzeile 15

Benedikt, Moriz (der Herausgeber der „Neuen Freien Presse“), IV., Wohllebengasse 6

Burckhard, Max, IX., Frankgasse 1

Dörmann, Felix, I., Rathausstraße 8

Elbogen, Friedrich (Jurist, Schriftsteller, Freund von Adele Sandrock), I., Schottenring 14

Herzl, Theodor, XVIII., Karl Ludwig Straße 50

Hofmannsthal, Hugo von, III., Salesianergasse 12

Kraus, Karl, I., Elisabethstraße 4

Lothar, Rudolf, XIII., St. Veitgasse 3

Pick, Rudolf, I., Jasomirgottstraße 6

Popper, Josef, IX., Müllnergasse 3

Salten, Felix, VIII., Kochgasse 32

Schwarzkopf, Gustav, I., Tiefer Graben 23

Specht, Richard (der später eine der ersten Biographien über Schnitzler schreiben würde), IX., Kolingasse 19

Uhl, Friedrich (eine zeitlang August Strindbergs Schwiegervater), VII., Burggasse 72

Es sind Menschen, die vom Schreiben leben können, die meist dort wohnen, was man auch heute noch als „gute Adresse“ bezeichnet. Interessant, dass später nicht nur Schnitzler, sondern auch einige seiner Weggefährten, Villenbesitzer sein würden und mehr – Hugo von Hofmannsthal zog gar in das so genannte „Fuchs Schlössl“ in der Ketzergasse 471 in Rodaun, ein Barockbau von 1724, den Maria Theresia ihrer Aja, der Gräfin Fuchs, geschenkt hatte. Da allgemein erklärt wird, Hofmannsthal habe sich schon 1901, frisch verheiratet, hier eingemietet, verzeichnet das Lexikon noch eine alte Adresse.

Ebenso für Hermann Bahr, wenngleich dessen Hietzinger Adresse „Veitlissengasse“ direkt an die Winzerstraße anstößt, wo er sich 1899/1900 von dem Jugendstil-Architekten Joseph Maria Olbrich eine Villa hatte errichten lassen, in der er mit seiner späteren Gattin, der Hofopersängerin Anna von Mildenburg, bis 1912 lebte, als die beiden dann ihren Wohnsitz in Salzburg nahmen. Schnitzler war des öfteren bei Bahr zu Gast. Es gibt Tage wie im Juni 1902, da notiert Schnitzler im Tagebuch nacheinander Besuche bei Hofmannsthal in Rodaun und bei Bahr in Ober St.Veit (was auch heute noch eine ganz schöne Entfernung darstellt).

Richard Beer-Hofmann schließlich, jener Freund, den Schnitzler wohl am aufrichtigsten liebte und den er dennoch so sehr um dessen finanzielle Unabhängigkeit beneidete, konnte es sich leisten, sich von Josef Hoffmann in Währing, Ecke Hasenauerstraße 59 / Meridianplatz, eine Villa bauen zu lassen, die 1970 völlig sinnlos abgerissen wurde, ein großer Verlust nicht nur für den Bezirk, sondern für die Architekturgeschichte Wiens.

Unter den Schauspielern, die in dem Verzeichnis von 1902 aufscheinen, findet man übrigens auch Burgschauspielerin Hewig Bleibtreu-Römpler mit der Adresse XVIII., Sternwartestraße 71. Das sollte Schnitzlers übernächste und letzte Adresse werden.

 

Rund um die Stadt

In den zehn Jahren zwischen 1893 und 1903, die er in der Nachbarschaft seiner Mutter in der Frankgasse verbrachte, wurde aus dem verbummelten Arzt Dr. Arthur Schnitzler endgültig der Schriftsteller Arthur Schnitzler. Seine „Anatol“-Einakter waren schon geschrieben, die sein Wesen dieser Jahre umrissen (allerdings mit einiger dichterischer Reife und ironischer Distanz gesehen), desgleichen kleine Prosa. Nun entstanden die Meisterwerke – die „Liebelei“, die Burckhard im Hofburgtheater uraufführte, die Novelle „Sterben“, eine von Schnitzlers dichtesten Arbeiten.

Und stärker denn je zog es Schnitzler in die Natur. Er gehörte zu jenen Juden (sie waren zahlreich!), die den Wiener Spruch „Ein Jud’ gehört ins Kaffeehaus“ unterliefen, indem ihnen die Natur ebenso wichtig war wie die verrauchte Welt des „nicht daheim und doch nicht an der frischen Luft“. In seiner Jugend war ihm die Umgebung Wiens von der Seite des Vaters eher aufgezwungen worden und in nicht sonderlich guter Erinnerung, wie er in „Jugend in Wien“ berichtete: Denn der Vater nahm an schönen Frühlings- und Sommerabenden die Familie zu Patienten mit, die ihre Villen in den Vorstädten oder rings um die Stadt hatten – und da hieß es in Schönbrunn, Hietzing, Dornbach oder Kaltenleutgeben stundenlang warten, bis der Herr Professor mit seinem Hausbesuch fertig war. Weder die rumpelnden Fiaker noch die vorstädtischen Wirtsgärten haben Arthur als Jungen begeistert.

Dennoch hat sich die Wienerische Gewohnheit der „Landpartie“, die im Biedermeier in so hoher Blüte stand, nie ganz verloren. Die Rede ist nun nicht von den Sommerfrischen in Baden, Vöslau, im Salzkammergut, am Semmering oder in Südtirol, sondern von jenen Ausflügen in die unmittelbare Umgebung Wiens, die in Schnitzlers Leben eine so große Rolle spielen sollten. Als junger Arzt hatte er zwischen Spitalstätigkeit, Mädeln, Kaffeehaus, Lesen und Schreiben, Besuchen und Theater dafür noch wenig Zeit. „Trendeln“ war der Ausdruck, den er selbst für seine damalige Art des Lebens fand.

1893, als sich nach dem Tod des Vaters so einiges ändert, bekommen auch die Landpartien eine andere Qualität durch eine Mode der Zeit, der sich Schnitzler mit Begeisterung hingibt: dem „Bicycle“. Ist heutzutage Radfahren eine durchaus glanzlose Fortbewegungsmöglichkeit im Alltag, so bedeuteten diese zwei Räder mit einem Sattel dazwischen in einer Welt, die nur Fiaker und eventuell Dampftramwayen kannte, die es seit 1883 gab, eine neue, individuelle Freiheit. Die elektrische Straßenbahn (von den Wienern und auch von Schnitzler dann „die Elektrische“ genannt,), die den Verkehr flüssiger machte, gab es erstmals 1897. Kurz, das Fahrrad, das man damals noch nicht so nannte – „Bicycle“, „Bic“, auch „Velocipede“ – brachte ein neues Lebensgefühl, übrigens auch für die Frauen, die sich diesen Sport von Anfang an mit eroberten.

Die neue Mode war allerdings noch eine Sache für die Reichen (und Schnitzler war zumindest wohlhabend genug, sich später – 1897 – sogar aus London ein neues Rad zu bestellen), und es galt jedenfalls für sehr „chic“. Kurz, Schnitzler erwähnte am 13. Juni 1893 das Wort „Bicycle“ erstmals in seinem Tagebuch, als der 31jährige eine erste Lektion nahm, und er absolvierte offenbar einen regelrechten Fahrkurs, denn laut Tagebuch bestand er am 27. Juli die Prüfung. Er gehörte auch einem der Clubs an, die aus dem Boden wuchsen (es war die Radfahrer-Union „Vorwärts“), er machte neben individuellen Ausflügen mit Freunden auch Touren „mit Clubmitgliedern“ (Gloggnitz – Seebenstein – Neustadt ist keine kleine Sache), und er unterwarf sich selbstverständlich der vorgeschriebenen „Mode“ – samt der „Bic. Peitsche“, die dazugehörte (um Passanten und Hunde zu vertreiben…). Kurz, Schnitzler, der sich selbst eingestanden hatte, in der Jugend durch eine „Dandy“-Periode gegangen zu sein, ist diesem Dandytum nicht fremd, wenn man ihn etwa auf der gestellten Studio-Fotografie mit Fahrrad aus dem Jahre 1910 betrachtet: Mütze und Stutzen entsprachen zweifellos den Vorschriften.

Auch seine Geliebte Marie Glümer ließ sich mit Fahrrad fotografieren, das Radeln der Adele Sandrock ist verbürgt, Schnitzler radelte mit Freunden wie Felix Salten, und in seinen Briefen an Richard Beer-Hofmann „missioniert“ er geradezu für das Radfahren, bis auch dieser Freund sich dem neuen Sport und der damit verbundenen Bewegungsfreiheit anschloss. Man nahm das Rad per Bahn in den Sommeraufenthalt mit und machte dann Radtouren.

Auf einer späteren Aufnahme mit Schnappschusscharakter, die Schnitzler – schon ein um die Taille stattlicher Herr in den mittleren Jahren – 1905 auf einer Mittelmeerreise „im adriatischen Küstenland“ zeigt, lehnt auch ein Fahrrad an der Wand, was sicher kein Zufall ist. Schnitzler, der sich Zeit seines Lebens nie ein Auto kaufte, blieb dem „Rad“, wie es später unspektakulärer und selbstverständlicher genannt wurde, treu.

Es verfolgte ihn bis ins Alter sogar in seiner Träume – da radelte der 66jährige „am Ring, sehr schnell und geschickt“, wie er am 22. August 1928 notierte, träumend auf der Suche nach der verlorenen Zeit, als dies noch in Wirklichkeit möglich war.

Dass das Radfahren allerdings damals wie heute keinesfalls ungefährlich war, beweist ein Brief, den Schnitzler im September 1922 an das Bezirksgericht Fünfhaus richtete, wo er einen Unfall schilderte, bei dem zwei Radfahrer zwischen Pötzleinsdorf und Neuwaldegg ineinander gekracht waren und Schnitzler ärztliche Hilfe leistete…

Doch dann kam die Zeit, da Schnitzler sich rund um Wien, vor allem im „Wienerwald“-Gürtel der Stadt, aber auch im Süden und überhaupt in der Peripherie, nicht nur zum Vergnügen umtun konnte. Es waren nicht die unbeschwerten  „Bicycle“-Ausflüge allein – nun hatte er es mit der Notwendigkeit der Wohnungssuche der anderen Art zu tun.

Nach dem Ende seiner desaströsen Beziehungen sowohl zu Marie Glümer wie zu Adele Sandrock vertiefte sich das Verhältnis Schnitzlers zu der jungen Marie Reinhard. Diese brave, nicht jüdische Bürgerliche stellte ihn erstmals vor ein Problem, mit dem sich mancher junge Mann damals konfrontiert sah: Sie wurde schwanger. Und wenn man nicht heiraten wollte und die Frau nicht abtrieb, sondern die Geburt des Kindes auf sich nahm, dann bedeutete dies, die werdende Mutter auf eine fiktive „Reise“ zu schicken, tatsächlich aber am Stadtrand von Wien irgendwo (auf Kosten des wohlhabenden jungen Vaters) zu verstecken. Das Kind gab man nach der Geburt zu einfachen Leuten „in Pflege“, und damit erledigte sich das Problem für den Vater zumeist, während sich die unverheiratete Mutter in Hinblick auf ihre eigenen Zukunftsperspektiven das Leben auch nicht mit dem „Bankert“ belasten konnte… Schnitzler hat die Problematik später in seinem Roman „Therese“ großartig geschildert.

Arthur Schnitzler lernte Marie Reinhard im Juli 1894 kennen, noch als Patientin in seiner auslaufenden Praxis als Hals-, Nasen-, Ohrenarzt: Sie war eine jener hoffnungsvollen Sängerinnen, die es vermutlich nie auf eine Bühne geschafft hätte. Im Gegensatz zu den meisten „süßen Mädeln“, die im Handstreich zu haben waren, wurde Marie Reinhard erst im März 1895 seine Geliebte. Anfang des Jahres 1897 wurde sie schwanger. Das stellte Schnitzler vor die Aufgabe, ein Quartier außerhalb von Wien zu suchen, aber nicht  zu weit, dass man es bequem erreichen konnte, per Fahrrad oder per Bahn. Im Juli 1897 notierte Schnitzler in seinem Tagebuch  Wohnungssuche in Nußdorf, Penzing, Döbling, Mauer, Perchtoldsdorf, und wieder Döbling, nicht ohne die „Hin- und Herfahrten“ zu erwähnten, die offenbar doch eine ziemliche Belastung darstellten.

Schließlich brachte er Marie Reinhard in Mödling unter, wo sich eine der großen Tragödien in ihrer beider Leben abspielte: Das Kind kam tot zur Welt. Marie Reinhard starb zwei Jahre später, wenige Jahre nach ihrem 28. Geburtstag, innerhalb von drei Tagen an einer Sepsis nach einem Blinddarmdurchbruch.

Vier Monate später, im Juli 1899, trat die nächste Frau in Schnitzlers Leben – Olga Gussmann kam nicht als Patientin, sondern als „Fan“ in die Sprechstunde in der Frankgasse. Eine angehende Schauspielerin, die sich quasi aus der Distanz in den um 20 Jahre älteren Dichter verliebt hatte. Die darauf folgende Beziehung wurde von ihr mit noch mehr Energie und Entschlossenheit betrieben als von ihm. Wenn er, was oft vorkommt, auf Reisen ist, schreibt er zahlreiche Briefe an Olga, die damals im 9. Bezirk, in der Grüne Thorgasse 17 wohnt.

Es kann und soll nicht darum gehen, das Privatleben eines Dichters voyeuristisch in allen Details zu verfolgen, aber die Details bestimmen die Topographie, um die es hier geht. Parallel dazu, dass Schnitzlers Ruhm skandalbehaftet dadurch wächst, dass er 1900 mit seiner Novelle „Leutnant Gustl“ geradezu berüchtigt wird, weil die Armee des Kaiserreichs (eine der Stützen der Monarchie und eines ihrer mächtigsten Elemente dazu) sich von Schnitzler angegriffen fühlt – abgesehen davon wiederholt sich ein Szenarium: Olga Gussmann wird schwanger wie vor ihr Marie Reinhard, und wieder ist Schnitzler noch nicht bereit für Ehe und Bindung. So geht er zu Beginn des Jahres 1902 wieder auf Wohnungssuche „außerhalb“, wo ein Kind zur Welt kommen kann, ohne dass man der ledigen Mutter im Spital die peinlichen Fragen stellt.

Früh schon nimmt er eine Wohnung in der Brühl, wo Olga auch eine Kinderfrau zur Seite gestellt bekommt. Dann ist das Schicksal diesmal gnädiger, und Olga Gussmann bringt mit Hilfe von Schnitzlers Freund und angeheiratetem Cousin Dr. Louis Mandl am 9. August 1902 den Sohn Heinrich zur Welt, lebenslang „Heini“ genannt. Er ist einer jener Menschen, den Schnitzler uneingeschränkt lieben wird, ein Gefühl, das auf Gegenseitigkeit beruht. Von diesem Heinrich Schnitzler konnte man nach seinem Tode sagen, er habe dem Vater Ehre gemacht, als sei es ihm Lebensaufgabe gewesen.

Das Kind wurde nicht weggegeben, Schnitzler bekannte sich dazu, was bedeutete, dass er Olga und Heini über kurz oder lang in sein Leben integrieren musste. Auch die Frauen seiner Familie – seine Mutter, seine Schwester Gisela, seine Schwägerin Helene („welche sehr zum Heiraten zuredet“) – waren „bürgerlich“ genug, um geordnete Verhältnisse zu postulieren. Als Olga und Heini Ende September aus der Brühl kamen, wohnten sie in der Gentzgasse 110. Schnitzler zog ihnen vom Alsergrund nach Währing nach…

 

Währing zum Ersten: die Spöttelgasse

Im Jahre 1903 kommt es in Schnitzlers Leben ausreichend zu Veränderungen, die auch räumliche Konsequenzen nach sich ziehen. Zwar ist er gar nicht sicher, dass Olga auf die Dauer die richtige Gefährtin für ihn ist, sie ist möglicherweise zu stark und selbstbezogen, aber genau diese Eigenschaften treiben die Beziehung in die von ihr gewünschte Richtung. Sie möchte heiraten, Frau Schnitzler sein und mit Mann und Kind zusammen leben, mit allen sozialen Rechten und Vorzügen, die diese Stellung mit sich bringt. Man kann es ihr nicht verübeln, und es gelingt ihr. Sie überwindet seinen „Junggesellenegoismus“, der so gar kein Bedürfnis nach Bindung hegt. Aber die Heiratsgespräche, werden drückend, und Schnitzler notiert offensichtlich auf Suche für eine gemeinsame Wohnung etwa eine Besichtigung in Pötzleinsdorf.

Möglicherweise ist Schwägerin Helene hilfreich dabei, dass Schnitzler am 22. April 1903 notieren kann, es sei eine „Wohnung Spöttelg. in Aussicht“, und tatsächlich konversiert er mit dem Hausherrn, einem Baumeister, bald ist der Maler in der Spöttelgasse, und es gibt kein Zurück mehr, so sehr sich Schnitzler innerlich auch sträubt:

Dumme Praeoccupation durch Wohnung; unvermeidliche und doch unerlaubte Geldausgaben; unsichre Zukunft in jeder Hinsicht – besonders Privatverhältnisse.

Dergleichen wird sich als „ewiger Gesang“ viele, viele Jahre lang durch sein Tagebuch ziehen. Doch am 12. Mai, wenige Tage vor seinem 41. Geburtstag, unterzeichnete Schnitzler den „Contract“ für die Wohnung.

Wie sehr Olga von Anfang an Unruhe in Schnitzlers Leben brachte und wie sich das nie ändern würde, kann die Nachwelt mühelos aus den Tagebuchnotizen des Dichters ablesen. Ihr Wunsch nach Selbstverwirklichung als Künstlerin äußerte sich in steten Ankündigungen (oder Drohungen), eine Karriere als Schauspielerin oder Sängerin einzuschlagen, also ihn gewissermaßen zu verlassen. Möglicherweise wollte sie damit noch mehr Druck ausüben, Schnitzler zu einer Ehe zu zwingen.

Wohin Olga auch in seinem Freundeskreis blickte, waren Paare:

Am 14. Mai 1898 hatten Richard Beer-Hofmann und Paula Lissy geheiratet, übrigens auch erst nach der Geburt ihres ersten Kindes (Miriam war 1897 zur Welt gekommen), Schnitzler und Leo Vanjung waren Trauzeugen im Tempel in der Florianigasse gewesen.

Hofmannsthal heiratete Gerty Schlesinger 1901. (Dabei war die Christin Paula zum jüdischen Glauben übergetreten und die Jüdin Gerty Christin geworden – zumindest ein konfessionelles Problem, das die beiden Juden Schnitzler und Olga nicht hatten).

Gleichfalls 1901 schlossen Jakob Wassermann und Julie Speyer den Bund: Eine Ehe, die später so schief gehen sollte wie jene Schnitzlers, was damals aber noch niemand ahnen konnte.

Felix Salten schließlich hatte 1902 seine Freundin, die Schauspielerin Ottilie Metzl, geheiratet.

Olga sah, dass die meisten Freunde ihres Geliebten offenbar oder scheinbar glückliche Ehemänner waren. Sie dachte nicht daran, ihr Leben als ewige „Konkubine“ zu führen.  

Aber nun hatte sich der Dichter unter dem dauernden Druck auch entschlossen, die Konsequenzen zu ziehen: Schnitzler wandte sich aus nicht erfindlichen Gründen zuerst an den Rabbiner in Mödling, wurde aber offenbar in die seinem Wohnsitz nächst gelegene Schopenhauergasse verwiesen, wo er beim Tempeldiener Erkundigungen einzog. Der Währinger Tempel (der 1938 zerstört und nicht mehr aufgebaut wurde) war ein stattliches Gebäude, das die Jüdische Gemeinde von Währing unabhängig von der Stadt Wien 1888 und 1889 hatte errichten lassen. 1890 wurden zahlreiche Vororte, auch Währing, in die Großstadt Wien eingemeindet, und damit übernahm die Kultusgemeinde den Tempel. Als Schnitzler hier wegen einer Eheschließung vorsprach, war David Feuchtwang der Rabbiner. Schnitzler musste noch den Advokaten Dr. Frey „in Heiratsangelegenheit“ heranziehen, meldete sich beim Obercantor im Tempel und setzte dann, nachdem er immer wieder längere und kürzere Reisen dazwischen geschoben hat, den entscheidenden Schritt.

Immer wieder hatte er sich innerlich gegen die Ehe gestemmt und dies offen seinem Tagebuch anvertraut („mein Egoismus, der sich ebenso gegen Gebundensein als gegen Sorgen sträubt“), aber am 26. August (Sohn Heini ist bereits ein Jahr alt) stehen er und Olga dann in einem Zimmer im Tempel in der Schopenhauergasse. Richard Beer-Hofmann und Gustav Schwarzkopf sind Trauzeugen, „Dr. Feuchtwang sprach kurz und gut; sehr sympathisch. Cantor Peterselka.“ Man isst danach in Olgas Wohnung in der Gentzgasse. Schnitzler geht „nach Hause“ und schreibt seiner Mutter, die verreist ist, seinem Bruder und Paul Goldmann, dass er geheiratet hat. Man nachtmahlt im „Gersthofer Restaurant“. Man ist schließlich in Währing.

Am 2. September 1903 holt Schnitzler seine Mutter von der Bahn ab. Olga ist in der Früh übersiedelt. Schnitzler findet positive Worte über die Wohnung in der Spöttelgasse, offenbar zum Besten entschlossen: „Neue Wohnung, wunderschön durch Ruhe, Aussicht auf den Sternwartegarten, hohe Lage, Balkons.“ Es ist ein neues Haus, das heute noch mit einer prachtvoller Historismusfassade (heute in Schönbrunnergelb, die damalige Farbe des Hauses wird nirgends erwähnt) erstrahlt, wo die Jahreszahl „1903“ vermerkt ist. Ein Foto, das Olga, Schnitzler und Heini auf dem Balkon zeigt, lässt darauf schließen, dass es sich um die linke Wohnung in zweiten Stock gehandelt haben könnte. Jedenfalls muss dieser Balkon den Blick auf den Sternwartepark und die machtvoll darin ruhende Sternwarte geboten haben.

An diesem 2. September 1903 abends gab es dann ein Essen in der Frankgasse im Familienkreis, in den Olga nun aufgenommen ist. Er begleitet Olga in die neue Wohnung, schläft aber offenbar noch bei der Mutter, da er am nächsten Vormittag wieder kommt.

Offenbar pendelt Schnitzler noch tagelang und empfindet das Phänomen geteilter Loyalitäten zwischen einem Wohnsitz, den er verlässt, und einem, dem er sich vielleicht nicht völlig gern zuwendet. Wenn er im Tagebuch jetzt „zu Haus“ schreibt, fügt er in Klammern „(Frankg.)“ hinzu.

Am 8. September 1903 ist es für ihn so weit: „Abschied Nachm. von meiner Wohnung“ bedeutet mehr, als diese Worte sagen: Eine harmonische und in der Verantwortung leicht erträgliche Partnerschaft mit der Mutter wird für die Beziehung mit einer im Grunde unverträglichen Frau eingetauscht. Olga hat viele Qualitäten, vor allem die Intelligenz, mit der sie Schnitzler immer bestrickt hat. Und sie ist die Mutter dieses Sohnes, den er liebt. Der Umzug dauert drei Tage. Zwei davon ist er „Abd. bei Mama“. Besuche bei ihr bleiben auch im neuen Leben ein Fixum seiner Existenz.

 

Leben in Währing

Wie hat Arthur Schnitzler nun in Währing, das er bis zu seinem Tode nicht mehr verlassen sollte, gelebt? Man kann hier nicht die Jahrzehnte bis 1931 detailliert schildern, aber sich vielleicht jene Anfänge von 1903, 1904 hernehmen, in denen Schnitzler sich in sein neues Leben einfügt. Wo die Wohnung ein Telefon hat, wo man für Klein Heini schon eine Kinderjause veranstaltet, wo ein Koksofen in einem feuchten Zimmer eine leise Kohlengasvergiftung nach sich zieht, wo man in Grinzing spazieren geht, in Gersthof isst und abends auch gerne einmal behaglich zuhause bleibt, weil man es schön hier hat…

Wenn Schnitzler schreibt, dass er in der Silvesternacht 1903 auf 1904 mit Olga „zu Fuss in schöner Winternacht nach Hause“ geht, von einem Abend bei der Mutter kommend, kann man sich heute noch gut vorstellen, wie die Strecke wohl war:

Von der Frankgasse hinter der Votivkirche zur Währingerstraße, diese hinauf bis zum Gürtel. Hier steht seit 1898 das mächtige Gebäude, das wir heute „Volksoper“ nennen und das zum fünfzigjährigen Regierungsjubiläum von Kaiser Franz Joseph als „Kaiser Jubiläums Stadttheater“ gebaut wurde. Dann vermutlich über den Gürtel, von der Währingerstraße zur Gentzgasse. Welche Querstraße er gewählt hat, um zur Spöttelgasse zu kommen, die heute Edmund-Weiß-Gasse heißt (die Benennung erfolgte 1918, da wohnte Schnitzler schon ein paar Hundert Meter weiter), wissen wir nicht.

Wie Schnitzler vieles nicht wissen konnte – etwa, dass er in ein paar Jahren weiterziehen würde, aber gar nicht so weit, auf die andere Seite der Sternwarte, in die Parallelstraße, die Sternwartegasse. Und auch dort sollte er sich als wackerer Spaziergänger zwischen Alsergrund und Währing erweisen, etwa in jener Nacht, als er Sigmund Freud in die Berggasse heim begleitete, und die Herren den Weg zweimal machten, weil sie gar nicht aufhören mochten sich zu unterhalten…

Fixpunkte von Schnitzlers Alltags sind die Besuche bei seiner Mutter, Besuche bei Freunden und das Empfangen von Besuchen. Ebenfalls Aktivitäten, für die er Währing genau so verlassen muss wie für die Besuche bei der Mutter in der Frankgasse, sind seine regelmäßigen Theater- und Konzertbesuche, die ihn in die Innere Stadt holen, wobei Schnitzler im Tagebuch so gut wie nie die banalen Nebensächlichkeiten erwähnt, wie er wohin kommt – es ist anzunehmen, dass die „öffentlichen Verkehrsmittel“ für ihn eine große Rolle spielen. Allerdings fällt auf, dass er immer wieder erwähnt, wenn ein Bekannter ein Auto besitzt oder wenn er selbst mit einem solchen (in einem Mietwagen) fährt: Aber die konkrete Überlegung, sich selbst eines zuzulegen, findet man nicht. Wir wissen nur, dass es ab 1903 keine Pferdetramway mehr in Wien gab – und dass der „39er“ Schnitzler ab 1907 jedenfalls in Richtung Stadt bis zum Schottentor, in Richtung Vorstadt bis Sievering gebracht hat…

Auffallend oft ließ Schnitzler einen Theaterbesuch mit einem Essen in einem der Luxushotels in der Inneren Stadt ausklingen, die für ihre Restaurants berühmt waren – bei Meissl & Schaden am Neuen Markt, wo das Rindfleisch so legendär war wie heute bei Plachutta (und wo 1916 Friedrich Adler den Grafen Stürgkh erschoß). Auch das Hotel Klomser in der Herrengasse 19, wo Schnitzler oft zu finden war, bekam einen blutigen Fleck, als man dort 1913 Oberst Redl als Spion stellte und er hier Selbstmord beging… Vom „Deutschen Haus“ am Stefansplatz sind zumindest keine Bluttaten bekannt.

Von 1903 an gibt es eine Novität in Wien, die Schnitzler oft in die Innere Stadt, auf den Kolowrat-Ring zieht (der heute Schubert-Ring heißt). Dort steht das so genannte „Kaiser-Panorama“, das eine frühe Version dessen bietet, was man heute vielleicht „Dia-Show“ nennen würde (und was heute ähnlich wohl nur noch bei den Peep-Shows im Prater zu finden ist) – der Besucher sitzt auf einem Sessel vor einem zylindrig-runden Holzkasten und blickt durch Gucklöcher. Vor seinen Augen ziehen kolorierte Bilder vorbei, die durch diverse Linsen den Eindruck der Räumlichkeit erweckten. Es gab 50 Bilder zu einem Thema, die an den Besuchern vorbeizogen, und sie faszinierten Schnitzler ungemein, da sie ihm offenbar neue Welten eröffneten.

Schnitzler-Forscher mit unendlichem Wissen und penibler Genauigkeit wie Peter Michael Braunwarthhaben alle „Panorama“-Besuche Schnitzlers zwischen dem 15. Jänner 1903 und dem letzten am 22. März 1927 (!) aufgezeichnet, wobei sein Interesse zurück ging, sobald der Film aufkam, der dann einen großen Teil von Schnitzlers Faszination an „lebenden Bildern“ absorbierte. Der erste dieser 206 Besuche im „Panorama“ galt „Siam“ (dem heutigen Thailand), der letzte „Dalmatien“, und der Anteil an exotischen Schauplätzen, die Schnitzler betrachtete, war groß – ist er doch selbst viel gereist, aber im Gegensatz zu Kollegen, für die Ägypten oder Palästina selbstverständliche Unternehmungen waren, nie weiter als Konstantinopel gekommen, und das war seine einzige wirklich „große“ Reise. Der Rest spielte sich in Europa ab. Manchmal liefern die doch lapidaren Tagebuchnotizen Schnitzlers in wenigen Worten ganz exakte Motivationen: So schrieb er nach einem Panorama-Besuch: „Solche Reisesehnsucht, dass ich gleich ins andre ging.“ 

Denn hier sah er China und Chile, Persien und Moskau, die Pyramiden und Indien. Er betrachtete auch Bilderfolgen, die auf reine Sensation ausgerichtet waren wie das Erdbeben von San Francisco oder im Weltkrieg Schlachtfelder-Impressionen. So wie seine Lektüre breitest gefächerte Interessen zeigt, taten es auch seine Panorama- und später dann Kinobesuche.

Im übrigen war Schnitzler nur an einem Ort zumeist glücklich: in der Natur. Der Anteil, den Spaziergänge, Wanderungen und Partien in seinem Leben einnehmen, ist zweifellos überdurchschnittlich groß. Als er in Währing lebte, lag vieles davon unmittelbar vor seiner Türe, wenn man so sagen will – Neuwaldegg, Pötzleinsdorf, Sievering, Salmannsdorf , Grinzing. Aber auch der Dreimarkstein, Krapfenwald, Hameau oder, auf der anderen Seite der Stadt, Hütteldorf, Hietzing, Hetzendorf, Lainz kommen an die Reihe, sei es per Rad, sei es zu Fuß.

Schnitzler ist auch als Bicycle-Fahrer ein großer Zu-Fuß-Geher, und wenn er es allein tut, dann hat das für den Dichter einen tieferen Sinn, denn er befindet sich mit sich, seinen Ideen, seinen Figuren in kreativster Auseinandersetzung. Er kann bei diesen Spaziergängen ganz tief in sich hinein schweigen, wie seine letzte Lebensgefährtin Clara Katharina Pollaczek quälend und für sich geradezu provokant erfahren wird. Oder er führt die angeregtesten Gespräche mit Spazier-Partnern, die ihn interessieren.

Jedenfalls aber verschreibt sich Schnitzler als Arzt – ob bewusst, ob unbewusst, aus Instinkt, wer weiß das schon – einfach die Bewegung. Wenn er sich selbst als Menschen diagnostiziert, der unter schweren seelischen „Verkrampfungen“ leidet (er nennt es im Tagebuch „krampfgeneigtes Wesen“), dann ist es natürlich das einzig Richtige, den Körper in die Natur zu schicken, der Spannung die Entspannung entgegenzusetzen.

Die Lektüre des Tagebuchs kann da noch viele interessante Details zum Thema liefern – etwa, dass er auch topographisch genau träumen kann, dass er nach dem Erwachen weiß, wenn er im Traum auf der Ringstraße oder im Türkenschanzpark war. Man erfährt auch, dass er manchmal in der Einsamkeit des Spaziergangs plötzlich kritische Situationen erlebt, wenn er sich einmal bei Nebel in den Weinbergen verläuft und nicht herausfindet, oder wenn er auf Glatteis gerät. Man ist gelegentlich weit draußen und sehr allein. Genau so wichtig ist es, wenn er etwa zu der Ortsbestimmung „Neuwaldegg“ einmal „Wald, Frühling“ dazuschreibt, lapidare Worte nur, aber eine ganz starke Begründung für das, was ihn ins Freie treibt. Und immer wieder bricht sein Entzücken am Wiener Wald durch…

Ja, und die Nachwelt weiß so vieles besser als jener, der nicht in die Zukunft blicken kann. Als Arthur Schnitzler einmal rund um die Sternwarte spazieren ging, die vor seiner Wohnung in den Spöttelgasse lag, da traf er Burgschauspieler Alexander Römpler. Wie auch nicht? Dieser wohnte ja in der Straße auf der anderen Seite der Sternwarte, folglich Sternwartestraße genannt. Auf Nr. 71. In jenem Haus, das seine Witwe, die Hofschauspielerin Hedwig Bleibtreu, auf der Bühne auch Schnitzler-Interpretin, nach dem Tod dieses Alexander Römpler an Arthur Schnitzler verkaufen würde…

Schnitzler brauchte dieses Haus nicht nur, weil er zunehmend erfolgreicher wurde und seine Freunde auch bemerkenswerte Häuser und Villen besaßen. Er hoffte wohl, seine nicht allzu glückliche Ehe mit einer permanent unzufriedenen Frau zu retten. Ihr Traum von einer Karriere als Sängerin brachte gewaltige Unruhe in den Schnitzler’schen Haushalt, zählte er doch zu den Männern, die sich für den Nabel der Welt hielten (und wäre wohl dankbar gewesen für eine Frau, wie Sigmund Freud sie hatte, deren einziger Lebensinhalt darin bestand, dem Gatten jenen reibungslosen Alltag zu bereiten, der ihn nicht bei der Arbeit störte).

Das zweite Kind in der Schnitzler-Ehe wird am 13. September 1909 geboren und ist die Tochter Lili, jener Mensch, den Arthur Schnitzler mit absolut unbedingter, hingebungsvoller, selbstloser Liebe umgeben wird. An sie knüpft er auch die Hoffnung, dass Olga sich nun mit dem Leben als Gattin und Mutter zufrieden geben wird – wenn er ihr für die größere Familie nun das repräsentative Haus bietet, das sie beide sich wünschen.

 

Währing zum Zweiten: Sternwartestraße 71 

Die Sehnsucht nach einem eigenen Haus kann man manchen Bemerkungen Schnitzlers in seinem Tagebuch oder Briefen entnehmen. Sieht er etwa Kollegen mit einem solchen gesegnet, wird der Wunsch besonders stark. „Alle Menschen haben eigne Häuser, […] – und ich – ich“, schrieb er schon 1902, als er noch nicht mit ihr zusammen lebte, an Olga Gussmann, wobei er hier noch im Grunde eher eigene Erfolg- und Mittellosigkeit im Vergleich zu Kollegen beklagte. Tatsächlich gab es da die schon erwähnten, eindrucksvollen Beispiele von „repräsentativem“ Wohnen, bei Bahr oder Hofmannsthal. Erst mit seiner Villa im Cottage-Viertel bekam dann auch Schnitzler „eine Adresse“, die immer und überall ein wichtiger Teil des Sozialprestiges ist.

Noch vor der Geburt seines ersten Kindes spricht er mit Hofmannsthal über die Idee eines Hauskaufs, was dieser als Schnitzlers Bereitschaft wertet, nun doch zu heiraten, was Schnitzler damals noch verneint. Aber als er im Oktober desselben Jahres 1902 Gerhart Hauptmann in Agnetendorf besucht hatte, schrieb er, diesmal dezidiert Gemeinsamkeit anstrebend, an Olga: „Ich sitze allein in der großen Halle des Hauptmannschen Schlösschens und denke mir, wie schön es wäre mit dir zusammen in einem eignen Haus fern der Stadt zu wohnen.“

Das sollte sich erst acht Jahre später erfüllen, nicht wirklich „fern der Stadt“, aber doch weit genug von deren Trubel entfernt und nahe genug in die geliebte Natur – im Cottage Viertel. Nun hätte es in dieser Region der Stadt noch ein anderes Viertel gegeben, das sich für „Künstler“ und wohlhabende Bürger anbot, nämlich auf der „Hohen Warte“, wo damals, zu Beginn des Jahrhunderts, zahlreiche Villen entstanden, viele von Josef Hoffmann gebaut. Man nannte diese Sammlung eleganter Moderne später gern eine „Künstlerkolonie“ und in den dreißiger Jahren haben Alma Mahler und ihr Gatte Franz Werfel dort eine Villa bezogen.

Schnitzler, der die Hohe Warte vermutlich gut kennt (jedenfalls notiert er Spaziergänge dort, und zweifellos hat er sich auch die Villen betrachtet), begab sich allerdings von der Spöttelgasse auf die andere Seite der Sternwarte – in die Welt des so genannten „Cottage“. Dieses „Cottage“-Viertel (die Wiener sagen noch immer französisch „Cottääsch“) ist eine sehr noble, weil selten exzentrische, immer elegante Villen-Welt der Reichen, inmitten von Gärten und baumbestandenen, ruhigen Straßen rund um die Hasenauerstraße, die Währing und Döbling trennt. Schnitzler blieb in der Sternwartestraße ein „Währinger“.

Eigentlich kam alles, wie so vieles im Leben, durch einen Zufall. Olga Schnitzler, noch immer von ihren Ambitionen getrieben, nahm Schauspielstunden bei dem Burgschauspieler Alexander Römpler. Dessen Villa in der Sternwartestraße 71 muss zumindest Olga bekannt gewesen sein. Römpler starb am 18. Dezember 1909, und Schnitzler bewahrte ihm im Tagebuch ein ehrendes Andenken.

Folgt man den Spuren des Tagebuchs detektivisch, so scheint Olga Schnitzler am 17. Februar 1910 irgendwo in der Gegend Hedwig Bleibtreu getroffen zu haben, Römplers Witwe, die große Burgschauspielerin. Sie war Schnitzlers als Darstellerin bestens bekannt und für die Rolle der Frau Klähr in seinem Stück „Der junge Medardus“, das imBurgtheaterder Uraufführung harrte, in Aussicht genommen. Offenbar lud Hedwig Bleibtreu Olga in das Haus in der Sternwartestraße ein. Es muss für die Witwe eine Erleichterung gewesen sein, über den toten Gatten mit jemanden zu sprechen, der ihn so verehrt hatte wie Olga Schnitzler. Möglicherweise kam da auch das Gespräch darauf, dass Hedwig Bleibtreu nicht mehr allein in dem großen Haus bleiben wollte.

Denn am 26. März 1910 vermerkte Schnitzler in seinem Tagebuch: „Dann mit O. das Haus Römpler-Bleibtreu besichtigt, Frau B. geleitete uns. Es überraschte mich aufs angenehmste, und der Gedanke des Kaufs wird lebhaft erwogen.“

Frau Bleibtreu gab den Schnitzlers offenbar Pläne des Hauses mit, und das Ehepaar erging sich noch am gleichen Tag in „Eintheilungsgesprächen“. Schon am Tag darauf, es war der Ostersonntag, war Schnitzler bei seiner Mutter (mit der er ein Bach-Konzert vierhändig spielte) und ging anschließend zu Bruder Julius und dessen Frau Helene:

Gespräch über das Haus und Kauf.“ Tatsächlich musste Schnitzler, um den Kauf finanzieren zu können, seinen Bruder – die „Ärzte“ waren da offenbar wohlhabender als der Dichter – um einen Kredit bitten.

Die Sache ging nun schnell vonstatten, schon am Ostermontag erfolgte die nächste Besichtigung: „Julius und Helene holten uns ab. Wir besichtigten wieder das Bleibtreu-Haus. Julius und H. sind sehr dafür. Gewisse architektonische Veränderungen wären nötig.“

Wiederum am nächsten Tag, dem 29. März 1910, ging Schnitzler mit seinem Freund Richard Beer-Hofmann, der ja in der Hasenauerstraße, also in der Nähe wohnte, und dessen Urteil ihm so wichtig war, in die Sternwartestraße, wo man offenbar schon einen Baumeister hinbestellt hatte: „Mit O., Richard in die Römpler Villa. Der Baumeister und Cottage Direktor Müller (Bruder von Sommerstorff). Die Veränderungen leicht durchzuführen und billig. Zustand der Villa allerbest. Auch Richard war höchst eingenommen. Besprechung mit Frau Bleibtreu. – Ob ihr die Aussicht ins grüne nicht abgehen würde? Sie… „Es fehlt mir so viel, dass es darauf nicht mehr ankommt.“ – Ich dachte: Wie wunderbar wirst du die Frau Klaehr spielen.-

Was nun folgt, sind die üblichen Probleme, die jeder Hauskäufer kennt, auch wenn er kein berühmter Dichter ist. Am 2. April konsultiert Schnitzler den Anwalt Friedrich Geiringer wegen des Hauskaufs,  und „Wohnungsmessungen“ spielen in seinen Gesprächen mit Olga offenbar und logischerweise eine große Rolle. Ihre Schwester Liesl interessiert sich dafür (zweifellos nicht uneigennützig), ob das Haus ein Fremdenzimmer hätte… Dass Schnitzler und Olga über Einrichtungsfragen nicht immer einer Meinung sind, die Stimmung bei diesbezüglichen Diskussionen „gewittrig“ werden kann, das geht wohl manchem Ehepaar bei einer Übersiedlung so.

Am 7. April 1910 kommt ein großer Moment: Im Haus in der Sternwartestraße wird mit Schnitzlers Anwalt und dem Notar Siegmund Holding der Vertrag unterzeichnet, Hedwig Bleibtreu stimmt der Preisreduktion um 5000 Kronen „In Gottes Namen“ zu: „Und so war das Haus in unseren Besitz übergegangen. – 95.000 Kronen; die Hälfte leiht mein Bruder, die andre die Sparkasse.“ Schwester Gisela zeigte sich übrigens pikiert, dass Schnitzler nicht auch bei ihr und ihrem Mann um einen privaten Kredit angefragt hatte…

Am 14. April wird der Kaufvertrag für die Sternwartestraße noch einmal unterzeichnet. Nun kann Hedwig Bleibtreu die Tränen nicht mehr zurückhalten. Und Schnitzler zeigt Anwalt Geiringer den Garten, den er nun wohl schon als den seinen empfindet… Später wird er von ihr noch eine Unterschrift benötigen, bezüglich der Hypothek auf das Haus, da Schnitzler in der Sparkasse eine so genannte Hypothekaranleihe aufnimmt.

Was Hedwig Bleibtreu betrifft, so verkaufte sie ein Haus – und zog in ein anderes, das dessen Zwilling war. Gebaut hatte die Villa in der Sternwartestraße Heinrich Sikora, der Baumeister der Zweiten Wiener Hochquellwasserleitung (und nebenbei ein Freund des so judenfeindlichen Wiener Bürgermeisters Lueger). Für sich selbst hatte er ein ähnliches in der Hochschulstraße 25 erbaut. Als nun Hedwig Bleibtreu das erinnerungsschwere Haus Sternwartestraße 71 verließ, verkaufte er ihr sein Haus. Sie zog also in ein nahezu identisches ein…

Für Schnitzler begann eine Zeit hektischer Aktivitäten. Schon damals gab es das Transportunternehmen Schenker, das sich über die Zeiten bis heute gerettet hat: 1872 gegründet, war die Firma mit ihrem Motto „Von Haus zu Haus in einer Hand“ Marktführer, und auch Schnitzler erkundigte sich dort bereits zwei Tage nach der ersten Vertragsunterzeichnung bezüglich der Übersiedlung.

Nun muss sich ein Mann wie er, von künstlerischen Fragen bedrückt, vor dem sich die Probleme der Aufführung des „Jungen Medardus“ auftürmen und der unter größten Schwierigkeiten an seinem Stück „Das weite Land“ feilt, mit Möbelstoffen befassen. Aus den Notizen des Tagebuchs geht hervor, unter welch schwerem Druck Schnitzler in diesen Monaten von Hauskauf und Übersiedlung steht…

Sorgen machen ihm natürlich die finanziellen Ausgaben, die natürlich auch durch den Wohnungswechsel „ins wahnwitzige“ zu steigen scheinen. Und wenn Olga dann mit Richard und Paula Beer-Hofmann, die keine Geldprobleme kennen, zu einem Antiquitätenhändler geht und „schöne Sachen entdeckt, die wir für die neue Wohnung brauchen“, dann kann der Mann, der dies bezahlen muss, nur in Düsterkeit versinken. Schließlich ergibt sich, was Schnitzler erwartet hat: Der Kostenvoranschlag für die Sanierung des Hauses steigert sich bedeutend, „doch war ich so sehr darauf gefasst, dass es mich kalt lässt.“ Charakteristischerweise wird in diesen Monaten einer seiner Träume davon handeln, dass ein Jugendfreund ihn zum Universalerben (!) einsetzt. Um einen Wunschtraum dieser Art zu deuten, bedarf es keines Professors Freud…

Weil Wien ein Dorf und Klatschnest ist, gratuliert ihm jeder zum „neuen Haus“, das Schnitzler selbst abwechselnd als „Haus“ und als „Villa“ apostrophiert. Es beherrscht den Alltag: Man wählt Tapeten, man geht „im Cottage“ spazieren, vermutlich mit neuem Blick die neue Lebenswelt erforschend, man sucht immer wieder den Architekten des Umbaus auf, konferiert mehrfach mit der Firma Schenker, landet immer wieder bei dem Antiquitätenhändler Berger, bespricht sich mit dem Elektriker, braucht einen Gärtner, sucht Lampen aus, besucht einen Glaslusterfabrikanten, verhandelt mit dem Tischler – Schnitzler notiert manchmal bloß „Villa, etc.“  , als sei es ihm zu mühselig aufzuzählen, was sich diesbezüglich alles begibt und ergibt. Die „Übersiedlungs-Unordnung“ beeinträchtigt auch sein künstlerisches Schaffen, da er sich an keine richtige Arbeit traut, wie er notiert.

Nicht nur bei Schnitzler verändert sich manches – auch Währing ist in Bewegung. Nach einem Spaziergang mit Olga notiert Schnitzler: „Veränderungen des Stadtbilds in der Gegend des neuen Türkenschanzparks.“ Dessen Erweiterung war zwei Jahre davor beschlossen worden, man hatte benachbarte Sandgruben einbezogen, den Boden verbessert und auch Bäume und Sträucher  aus anderen Klimazonen angepflanzt, die hier nicht üblich waren. Der „Türkenschanzpark“ ist eine besondere Attraktion geworden. Dass hier einmal seine eigene, übrigens sehr gelungene Büste von Paul Peschke aufgestellt werden würde – das kann Arthur Schnitzler damals wahrlich nicht ahnen…

Anfang Juli ist es so weit: Schnitzler ordnet seine Bücher zum Verpacken, dann „flüchtet“ man auf den Semmering (der Anlass ist mit dem 70. Geburtstag der Mutter, der dort gefeiert wird, gegeben), und als sie zurückkehren, ist die Wohnung in der Spöttelgasse schon „im Stadium der beginnenden Zerstörung“. Nun geht es tagelang ans Packen, und doch gibt es in diesen Momenten der Unruhe und Verstörung offenbar auch Glücksmomente: „Aß zum ersten Mal eine Kirsche vom eignen Baum.“ Und wenn Töchterchen Lili im Garten der Villa auf der Wiese liegt, setzt sich dieses Glück fort…

Die Bücher nehmen ihren Weg in das neue Haus, Schnitzlers Arbeitszimmer desgleichen, und am 15. Juli 1910, man ist noch gar nicht eingezogen, stellt Burgtheaterdirektor Baron Berger den ersten „Besuch“ in der Villa dar – es ist, Schnitzler kann es noch nicht absehen, ein gutes Omen, denn noch unter Berger werden in diesem und im nächsten Jahr „Der junge Medardus“ und „Das weite Land“ große Uraufführungserfolge für den Dichter am Burgtheater. Im Moment ist aber alles noch in einem höchst unsicheren Verhandlungsstadium. An diesem Abend hat Schnitzler in seiner letzten Nacht in der Spöttelgasse verwirrte Träume, in denen er durch das Burgtheater irrt…

Tags darauf wird bei schönstem Wetter übersiedelt. Man räumt den ganzen Tag, abends funktioniert das elektrische Licht nicht, aber dass Schnitzler stichwortartig „Bad“ aufschreibt, scheint doch Zufriedenheit mit dem Badezimmer anzudeuten. Wie stets notiert er seine Träume, aber jene der „ersten Nacht“ in dem Haus, in dem er den Rest seines Lebens verbringen wird, haben nichts mit diesem zu tun.

Schnitzler erwacht früh: „Schreibe an meinem Schreibtisch, mit dem Blick über die Veranda, auf die Baumwipfel unseres Gartens, Häuservielheit, Morgenhimmel, das Haus gegenüber, wo eben das Dach fertig gestellt wird (Holzgerüst) – die letzten Tage nieder.

Alles ist gut – vieles wunderschön“, wenn er auch die Sorgen nicht vergisst. Und, was für ihn so wichtig ist: Zum ersten Mal in seinem Leben „wohnt“ er inmitten von Natur. Alles Bisherige waren Stadtwohnungen gewesen. Nun ist er dort, wo er sich am wohlsten fühlt.

Schnitzler ist angekommen. Die ersten Tage bringen Ordnungsmachen, so intensiv, dass er nur in den Garten stürzt, als ein Schrei seiner Frau ihn aufschreckt, die dachte, Töchterchen Lili fiele aus dem Wagen, als sie vom Balkon hinuntersah. Man isst künftig des öfteren im Türkenschanzpark, und nach und nach genießt Schnitzler seinen Garten wirklich. „Ordnen, Räumen“ – man kauft auch noch das eine oder andere Stück („ein hübsches Pult“, das früher Schriftstellerkollegen Felix Dörmann gehört hat), Olga bekommt einen neuen Bücherschrank. Schnitzler erwähnt nicht ohne Behagen, dass er mit seinen Gästen „auf dem Balkon“ sitzt. Er ist gerne im Garten und liest, spielt dort auch mit Olga und Sohn Heini Ball, und natürlich hat er ein Klavier, auf dem er phantasiert. Das Leben normalisiert sich, wenn auch das „Ordnungmachen“ noch lange anhält. Und schon Anfang August wird mit einem Zimmermeister „ein Salettl oder dergl.“ in Aussicht genommen…

Schriftstellerkollege Stefan Zweig, der mit Schnitzler in losem, aber freundschaftlichem Kontakt steht (sehr ehrfurchtsvoll und bewundernd von Seiten des knapp zweieinhalb Jahrzehnte Jüngeren), schickt Schnitzler zum Einzug in das Haus einen „Hausspruch von Goethe“ als Autograph des Olympiers, dessen Eigenhändigkeit auf dem Blatt von Eckermann selbst bestätigt wurde. Zweig gesteht zu, dass der Edelgenius von Goethe bei diesen Versen geschlafen habe („Gott segne das Haus / Zweymal rannt ich heraus./ Denn zweymal ist’s abgebrannt, / Komm ich zum drittenmal gerannt, / Da segne Gott meinen Lauf, / ich bau’s wahrlich nicht wieder auf.“). Aber es ist wahrlich ein Geschenk von höchstem Wert, zumal Schnitzler den Dichter sehr verehrt.

Unterspielend hat Schnitzler kurz nach dem Einzug in die Sternwartestraße am 23. Juli 1910 an Richard Beer-Hofmann geschrieben, „Wir (..) freuen uns des neuen Heims.“

Ein nachdrücklicheres, wenn auch bescheiden gehaltenes Gefühl von Glück und Stolz über Heim und Familie klingt durch, als Schnitzler am 19. Jänner 1911 an den von ihm besonders geschätzten Georg Brandes schreibt:

Wie gerne möchte ich mit Ihnen reden, Sie in meinem Hause begrüßen – „Mein Haus“ sag ich, denn im vergangenen Sommer habe ich von Frau Bleibtreu, der Witwe des Schauspielers Römpler – (sie spielte die Frau Klähr im Medardus), eine kleine Villa im Cottage gekauft, die ich mit Frau und Kindern – (den Buben, der jetzt 8 Jahre ist, kenne Sie von Marienlyst her, das Mädchen ist kaum anderthalb Jahre alt) bewohne.“

Glück spricht daraus, endlich auch räumlich angekommen zu sein in einer Umgebung, die Schnitzler behagt, und es gibt glücklicherweise eine ganze Serie von Fotos, die das Haus, vor allem aber ihn darin zeigen.

Im Gegensatz zu dem geradezu legendären, immer wieder publizierten Schnitzler’schen Familienfoto, das laut Tagebuch am 25. Juni 1910 im Salon von Madame d’Ora, der berühmtesten Fotografin von Wien, entstanden ist (wobei die Strohhüte, die am 19. Juni gekauft worden waren, bei allen Familienmitgliedern außer der kleinen Lili zum Einsatz kamen), stammen die Villa-Bilder von einem der Nachwelt weiter nicht bekannten Fotografen namens Franz Ankner, der in Schnitzlers Tagebuch ein einziges Mal auftaucht: An jenem 17. Juni 1912, als er bei Schnitzler erschien: „Nm. Photographierte Photograph Ankner unser Haus.“ Es gibt keine darüber hinausgehendeInformation – wohl aber die Fotos. Man sieht die Villa von der Straßenseite, wo sie sich – wie im Cottage oft zu finden – hinter einer Mauer und hoch wachsenden Sträuchern versteckt. Und man sieht sie vor allem von der reizvollen Gartenseite, wobei Schnitzler mit Lili auf dem Balkon steht, Olga mit Heini im rundum blühenden Garten.

Die weiteren Fotos, die möglicherweise / vermutlich damals entstanden sind (das Bildarchiv der ÖsterreichischenNationalbibliothekidentifiziert aus seinen Beständen nur das Außen-Gartenbild der Villa als Ankners Arbeit) zeigen das Esszimmer mit großem Fenster, das Musikzimmer und das Schlafzimmer mit einem sehr unspektakulären eisernen Doppelbett. In Schnitzlers Arbeitszimmer hängt rechts von seinem Schreibtisch, auf dem eine Pflanze steht, eine Kopie der Mona Lisa – das scheint auf eine Art Bildungsbürgertum zu deuten, das Schnitzler fern war, allerdings hat er seine Vorliebe für die Renaissance in mehreren Stücken (vor allem „Der Schleier der Beatrice“) bewiesen. Vor seinem Schreibtisch steht eine Couch, ähnlich wie man sie von Sigmund Freuds Arbeitszimmer kennt, nur dass Schnitzler sie nicht für psychoanalytische Sitzungen benützte.

All das zeigt keinen übertriebenen Aufwand, vor allem nicht im Vergleich mit anderen Interieurs. Der Beginn des 20. Jahrhunderts war, solange die Habsburger-Monarchie zumindest äußerlich intakt schien, noch ein Zeitalter, in dem die Stile sich überlappten. Mit Wohlhabenheit ging nach wie vor die Üppigkeit des Historismus Hand in Hand, wie ihn Hans Makart für Wien prägte, den Geschmack in Richtung nachgeahmter früherer Epochen und exzessiver Überladenheit ausrichtend. Auf der anderen Seite blickte man in die Zukunft, und der Jugendstil war dabei schon längst etablierte Gegenwart, auf seine Art – wenn auch ästhetischer und eleganter – ebenso spektakulär wie der Historismus.

Sieht man die Fotos, die von der Inneneinrichtung von Schnitzlers Haus existieren, so ist da kein „Stil“ festzustellen, sondern einfach „Wohnen“, „Leben“. Für Sammelexzesse fehlte ihm das Geld. Er hatte keinen exquisiten Bestand von Biedermeiermöbeln geerbt wie sein Freund Richard Beer-Hofmann. Und ein Vergleich liegt besonders nahe: Zu Schnitzlers Adresse „Sternwartestraße 71“ war der Maler und Radierer Ferdinand Schmutzer in der Sternwartestraße 62-64 fast ein „Nachbar schräg vis a vis“: Zimmer seines Hauses waren nicht nur kostbarer eingerichtet, sie weisen auch auf Sammlertätigkeit (oder Erbe) kostbarer Stücke hin, etwa bei einem Renaissanceschrank oder einem Kachelofen aus dem 18. Jahrhundert. Am Tag seiner Übersiedlung übrigens hat Schnitzler in aller Früh, als er nach unruhigen Träumen erwachte, von seinem Haus „auf das weiße, noch nicht bewohnte Haus Schmutzers“ hinüber gesehen, das damals noch im Bau war (Architekt  Robert Örley schuf eine großzügige, repräsentative Anlage) und das 1911 bezogen wurde, woraus sich eine angenehme Nachbarschaft ergab.

Ferdinand Schmutzer hat sich Arthur Schnitzler übrigens im Juli 1911 „bei der Tram“ vorgestellt, was den Schluss nahe legt, dass die großen Künstler für ihre Ausflüge „in die Stadt“, wie man in Wien sagt, die Straßenbahn – damals noch „Tramway“ benannt – benutzten. Die Beziehung trug dann auch künstlerische Früchte, Schmutzer hat später Schnitzlers Novellen „Die Hirtenflöte“ und „Der blinde Geronimo und sein Bruder“ illustriert und eine großartige Porträtradierung des Künstlers gestaltet.

Zurück zu den Interieurs der Epoche: Gegen die aufwendigeren Einrichtungen anderer Künstler-Häuser  ist Schnitzlers Einrichtung gutbürgerlich und effektiv. Allerdings gibt es ein Foto, dessen Entstehung nicht ganz geklärt ist, Schnitzler aber zweifellos in seinen Anfangsjahren in seinem Arbeitszimmer in der Sternwartestraße zeigt. Er steht an seinem Arbeitspult, die kleine Stehlampe hat einen gerüschten Schirm, und über die Maßen auffällig ist eine etwa einen Meter große Kopie der Venus von Milo links von ihm. (Denkt man an den gewaltigen Juno-Kopf im Goethe-Haus in Weimar, haben diese Gips-Kopien der Antike im Hause der Intellektuellen ja edle Tradition – nur die Nachwelt lächelt darüber.) Rechts davon steht ein kleiner Aktenschrank mit geöffneten Fächern.

Es gibt Interieur-Aufnahmen der Schnitzler-Villa, die sein Sohn Heinrich, damals ein begeisterter Fotograf, in des Vaters letzten Lebensjahren gemacht hat. Auch da erblickt man das Schreibpult, doch die Venus fehlt. Der Lampenschirm ist nun aus schlichtem Porzellan, aber die „Goethe-Weihestätte“ ist intakt: Jetzt steht eine kleine Goethe-Statuette rechts am Tisch, die von Michael Powolny für die Wiener Werkstätte geschaffen worden und Schnitzler von seinen Geschwistern zum Geschenk gemacht worden war. Links davon hängen zwei Silhouetten, die obere zeigt Goethe vor einem Grabmal, die untere Goethe und den kleinen Fritz von Stein. Dazu kam das Goethe-Autograph von Stefan Zweig. Rechts an der Wand hängt ein Stich von Beethoven. Die Fotos sind in Details nicht leicht zu erkennen, da die damaligen Kameras noch mit Gegenlicht zu kämpfen hatten und vieles tief im Schatten liegt. Das Haus von außen hat sich wenig gewandelt, die laublosen Bäume zeugen von Herbst und ein großes Auto davor identifiziert die dreißiger Jahre.

 

Nochmals: Leben in Währing

Schnitzler hat seine beiden letzten Lebensjahrzehnte (genau: 21 Jahre und drei Monate) in seiner Villa in der Sternwartestraße verbracht, von seinen Reisen abgesehen, die zwar zahlreich, aber nie übertrieben lang waren. Hier hoffte er auf die glücklichsten Jahre seines Lebens, aber wir wissen, dass sie es nicht geworden sind. Zwar erlebte er um sein 50. Lebensjahr die größten künstlerischen Erfolge seines Lebens und erklomm (mit Ausnahme des Nobelpreises, den er ersehnte und der nie kam) tatsächlich außerordentliche Höhen des Ruhmes.

Doch sein Privatleben mit Olga, einer schwierigen Partnerin (da hatten es so gut wie alle seine Freunde, Jakob Wassermann ausgenommen, mit ihren Gattinnen besser getroffen), war zunehmend unglücklich. Tatsächlich hatte Schnitzler schon früh (am 3. August 1910) geahnt: „Es fängt nicht gut im neuen Haus an“, und es ging auch nicht wirklich gut weiter, tägliche Querelen, von anderen Verlusten und Tragödien abgesehen.

1911 starb seine Mutter, 1912 mit Otto Brahm sein wichtigster Theaterdirektor, der auch ein Freund gewesen war. Der Erste Weltkrieg bedeutete für Schnitzler nicht nur den Zusammenbruch einer Welt, der er bei aller kritischer Distanz verbunden war, sondern auch den Verlust seines Status als Dichter auf der Höhe seiner Zeit: Von da an klebte ihm das Etikett an, „von gestern“ zu sein, man missverstand ihn als Apologet der nun verhassten, verachteten Monarchie.

1920, 1921 waren die besonders schweren Jahre der „Reigen“-Skandale in Berlin und Wien: Schnitzler erfuhr später, dass es sogar in Währing Hetzversammlungen gegen ihn gegeben habe. Dabei wurde betont, „dass ich ‚ganz in der Nähe, Sternwartestraße 71 wohne…’ Wahrscheinlich war es von Vortheil für mich, dass man bergauf hätte ‚stürmen’ müssen…

In diese Zeit fiel dann auch die Scheidung von Olga (26. Juni 1921). Die inbrünstig geliebte Tochter Lili lebte teils bei ihm, teils bei der Mutter, die es unstet in Deutschland herumtrieb, Sohn Heini ging aus dem Haus, um in Berlin eine Schauspielerkarriere einzuschlagen, und Schnitzler lebte oft allein, nur mit dem Personal, in seiner Villa.

1924 ereilt Schnitzler das Schicksal der meisten Hausbesitzer – unabwendbare Reparaturen fallen an, allein das Lackieren würde ihn, nach der gegenwärtigen inflationärer Währung (noch vor der Währungsreform im Dezember 1924 zum Schilling) zehn Millionen Kronen kosten, berichtete er an Olga. Der hölzerne Teil der Veranda verfiel, so dass Schnitzler ihn durch Mauerwerk ersetzen ließ. Von einem Glasdach war er aus Kostengründen abgekommen.

1926 ließ Schnitzler weitere Veränderungen am Haus vornehmen, und als er im September von einer mehrwöchigen Schweiz-Reise heimkehrte, war sein Arbeitszimmer um einen Erker erweitert worden, was ihn sehr entzückte: „das vergrößerte Zimmer ist eine reine Freude“, schrieb er an Olga, „ich habe gewiß 2-3 Lichtstunden im Tag gewonnen, und die Landschaft, das Stadtbild präsentiert sich in dem Schiebefenster-Rahmen schöner als je. (…) Auch das fließende kalte u warme Wasser ist eine Lebenserleichterung.

Er hatte das Hotelleben nach langer Abwesenheit gründlich satt und genoss die Häuslichkeit in seinen vier Wänden. Allerdings übte seine nunmehrige „feste“ Gefährtin, die Schriftstellerin Clara Katharina Pollaczek, die bei ihm aus- und einging, genau so viel Druck aus wie Olga, und dies perpetuierte Schnitzlers private Tragödie, die dann 1928 im Tod seiner Tochter Lili kulminierte.

Währing als Schnitzlers Umfeld spielte auch eine Rolle bei einer Vorliebe, die er sehr früh entwickelte, wie er übrigens –Peter Michael Braunwarthführt das in seinem Artikel „Dr. Schnitzler geht ins Kino“ aus – stets ein Vorreiter bei technischen Neuerungen war. Wir wissen bereits, dass er zu den ersten Wiener Radfahrern gehörte. Er hatte einen der ersten Wiener Telefonanschlüsse. Er benützte das Rohrpost-Service, sobald es angeboten wurde, zeigte sich von der Schallplatte fasziniert, hatte zwar selbst kein Auto, benützte es aber gern, und er zeigte keinerlei Angst vorm Fliegen. Sein Interesse an der Fotografie, dann an den bereits erwähnten Angeboten des „Panoramas“ mündeten in sein doppeltes Interesse am Film: Schon zu seinen Lebzeiten kamen viele seiner Werke auf die Leinwand, und Schnitzler wurde ein geradezu leidenschaftlicher Kinobesucher. Das hatte auch mit seiner Schwerhörigkeit zu tun, die ihm Oper und Theater vergällte: Im Stummfilm war er, der sonst „Behinderte“, wieder ein vollwertiger Partner des Gebotenen…

Er ist allerdings nicht nur in die Währinger Kinos gegangen, wenn er auch das Iris-Kino und das Gersthofer Kino immer besuchte. Aber er war es gewöhnt, „in die Stadt“ zu fahren, und er absolvierte dort viele Kinobesuche, blieb aber etwa auch in der Nähe, im Neunten Bezirk (Votiv-Kino, Kolosseum-Kino). Wichtig waren ihm die Filme, nicht die Nähe des Gebotenen. Er hätte es wohl kaum auf über 650 Kinobesuche zwischen 1910 und 1931 gebracht, wenn er sich auf das Angebot in Währing beschränkt hätte…

Dennoch: Dass Schnitzler nicht nur Wiener, sondern auch spezifisch ein „Bürger von Währing“ war, zeigt sich in Großem und Kleinem: Im November 1918 hat er in den Umsturztagen, als man mit „Ausschreitungseventualitäten im Cottage“ rechnete, er einen öffentlichen Aufruf an die „Bürger von Währing u Döbling“ mit unterzeichnet, eine Schutzwache für diese Bezirke zu bilden – schließlich hatte er eine Familie, die möglicherweise bedroht war.

Aber Bürgerrechte äußern sich auch im Trivialen des Alltags, wie ein Brief zeigt, den er am 12. Juni 1926 an das Polizeikommissariat des 18. Bezirks schrieb: Darin beschwerte er sich darüber, dass im Cottage verschiedene Hausbewohner zu jeder beliebigen Tageszeit, am liebsten in den Nachmittags- und Abendstunden, ihre Teppiche und auch Möbel ausklopften. Da er gerade zu dieser Zeit und im Sommer natürlich bei offenem Fenster zu arbeiten pflegte, fühlte er sich belästigt – zumal vom Nachbarhaus Sternwartestraße 73, wo man seinem Ersuchen, dies bleiben zu lassen, nicht nachkam. Ob Schnitzlers Intervention beim Polizeikommissariat Folgen zeitigte, geht zumindest aus dem Tagebuch nicht hervor.

Letzte Fotos von Arthur Schnitzler zeigen den schon sehr alt wirkenden Mann in seinem Haus. Sohn Heini fotografierte den Vater am 25. Juni 1931 mit Elisabeth Bergner im Garten – die schöne, verführerische Nymphe und der lächelnde alte Herr. Wohl auch damals entstanden die letzten  Fotos von Schnitzler in seinem Wohnzimmer, vor dem Fenster auf dem Sofa liegend, oder alte Mann mit Stock in seinem Garten.  

Das allerletzte Foto ist wohl das tragischste: Es zeigt, wie Arthur Schnitzlers Sarg aus seinem Haus getragen wird. Die Männer haben eben das Gittertor verlassen – groß prangt die Hausnummer „71“ im Bild. Hier hatte Schnitzler gelebt, hier war er am 21. Oktober 1931 zusammengebrochen und gestorben, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben.

 

Dieser Artikel basiert
auf den Tagebüchern von Arthur Schnitzler,
seiner Autobiographie „Jugend in Wien“,
den Briefwechseln mit Richard Beer-Hofmann, Georg Brandes, Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten, Olga Waissnix
sowie den zwei großen Schnitzler-Briefbänden,
dem Katalog zur Schnitzler-Ausstellung von 1981.
Desgleichen dem Band „Schnitzler und der Film“ des Wiener Filmmuseums,
dem Bildband über Schnitzler aus dem Brandstätter Verlag  
und der Schnitzler-Biographie der Autorin.
Dazu kommt Sekundärliteratur über Wien im allgemeinen und Währing im besonderen.
Vor allem verdankt diese Betrachtung über „Schnitzler in Währing“ unendlich viele Fakten und Anregungen Herrn Professor Peter Michael Braunwarth, dem Mitherausgeber der Schnitzler-Tagebücher, der sein unendliches Schnitzler-Wissen nicht nur besitzt, sondern auch zu teilen bereit ist, wofür ihm die Autorin von ganzem Herzen dankt.

 

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ARTHUR SCHNITZLER UND DIE MUSIK

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Überlegungen zum 150. Geburtstag

ARTHUR SCHNITZLER UND DIE MUSIK

2012 ist für Österreich ein starkes„Gedenkjahr“, weil vor 150 Jahren, 1862, eine Menge passiert ist. Zwar legt sich der Schwerpunkt in den Medien eindeutig auf  Gustav Klimt, den „Superstar“ des Jugendstils, aber man darf zwei große österreichische Dichter nicht vergessen: 1862, am 25. Mai, starb Johann Nestroy. Und zehn Tage davor, am 15. Mai 1862, war Arthur Schnitzler geboren worden. Beide Dichter waren weit enger mit der Musik verbunden, als man gemeiniglich weiß.

Von Renate Wagner

Die Frau, die Arthur Schnitzlers Mutter werden sollte, stammte aus einer wohlhabenden Wiener Ärzte- und Großbürgerfamilie. Also hatte diese Louise Markbreiter, die später Dr. Johann Schnitzler heiratete, die übliche profunde musikalische Ausbildung der Töchter aus gutem Haus erhalten. Aber offenbar nicht widerwillig, sondern mit Begeisterung. Ihre Musikalität ging auf Sohn, Enkel, Urenkel über.

Mütterlicherseits stammte Louise Markbreiter aus der berühmten Familie Schey, aus der Arthur Schnitzler dann einen Verwandten hatte, dessen Namen heute nur noch wenige kennen, der aber dennoch für die Wiener Musik unsterblich berühmt geworden ist: Denn das berühmte „Fiakerlied“ („I führ‘ zwa harbe Rappen, mei‘ Zeug’l steht am Grab’n“) stammt von seinem Vetter Gustav Pick (1832–1921), der übrigens wie Schnitzler selbst  nahe bei den Scheys und Markbreiters am Jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs (1. Tor) begraben ist…

Zurück zu Louise Schnitzler: Sie sorgte dafür, dass auch ihre Söhne, obwohl diese von vornherein für den ärztlichen Beruf vorgesehen waren, Musikunterricht erhielten. Julius wurde ein begabter Violinspieler, Arthur lernte Klavier, was er, wie er in seiner Autobiographie „Jugend in Wien“ schreibt, mit ebenso mäßigem Eifer betrieb wie die Schule… Seine Mama machte sich die Klavierlehrer des Sohnes weit mehr zu Nutze, indem sie diese nach der Stunde noch aufforderte, mit ihr vierhändig zu musizieren – was ihre lebenslange Leidenschaft war und was sie dann doch auf Sohn Arthur übertrug. Dieser schreibt dazu:

 „Das Üben machte mir nicht viel Spaß, so blieb ich in der Technik zurück, brachte es aber dank meinem durch Opern- und Konzertbesuche geförderten Musikinteresse zu einer gewissen Fertigkeit, insbesondere im Vierhändigspielen, bei welchem meine Partnerin meist die Mama war.“

Und das behielt er als Gewohnheit bis zum Lebensende der Mutter 1911 bei. Danach begann er bald mit seinem 1902 geborenen Sohn Heini vierhändig zu spielen, weil ihm seine Gattin Olga in dieser Kunst schlechtweg nicht gut genug war. Heinrich Schnitzler war ein hervorragender Klavierspieler –  er verkörperte schon die dritte Generation der Familie mit besonderer Musikalität. Er war allerdings nicht so gut wie sein genialer Freund Rudolf Serkin. Ein anderer seiner Jugendfreunde hieß übrigens George Szell, und wir kennen diese Namen gut – Serkin am Klavier und Szell am Pult des Cleveland Orchestra waren über Jahrzehnte strahlende Stars des internationalen Konzertlebens, während Heinrich Schnitzler, der sich die Hand einst überübte und dann nur noch zum Vergnügen Klavier spielte, Schauspieler und Regisseur wurde. Nicht zuletzt durch diese Freunde seines Sohnes war Arthur Schnitzler immer wieder mit aktiven Musikern in Verbindung.

Um die Geschichte der musikalischen Begabung in der Familie zu komplettieren: Heinrich Schnitzler heiratete Lilly von Strakosch-Feldringen, die eine hervorragende Geigerin war, und er selbst sagte immer, dass die Karriere seines eigenen Sohnes Michael das Ergebnis der Anteilnahme war, mit der Lilly Schnitzler dessen Talent förderte: Wir wissen, dass Michael Schnitzler als Konzertmeister der Wiener Symphoniker und als Gründer und Chef des Haydn-Trios eine bedeutende Persönlichkeit im Wiener Musikleben war. Derzeit widmet er sich allerdings vor allem der Rettung des Regenwaldes in Costa Rica, was ja auch eine sehr ehrenvolle Aufgabe ist.

Vier musikalisch begabte Schnitzler-Generationen also – und Arthur Schnitzler, der keinerlei Kompositionsausbildung erhielt, war immerhin begabt genug, um mehrere Musikstücke, darunter einen Walzer zu komponieren. Und zwar zu jenem Werk, das ihn 1895 bei der Uraufführung imBurgtheaterberühmt machte: „Liebelei“. Dafür, dass Arthur Schnitzler nie Kompositionsunterricht erhielt, zeugt diese kleine Pièce von Musikalität, Geschmack und einiger Wendigkeit.

Viel berühmter, weltberühmter wurde allerdings ein anderer Walzer, der zu einem Schnitzler-Werk geschrieben wurde – der „Reigen“-Walzer, den Oscar Straus zur „La Ronde“-Verfilmung von Marcel Ophüls komponierte. Dieser weltberühmte, skandalumwitterte „Reigen“ – das erste Stück der Weltliteratur, das den Geschlechtsakt selbst auf die Bühne brachte – diente auch Erich Wolfgang Korngold als Vorlage für ein Ballett, und schließlich hat in unseren Tagen der belgische Komponist Philippe Boesmans, der bekanntlich eine Neigung zu Literatur-Vertonungen hat, 1993 aus diesem „Reigen“ eine Oper gemacht, für die ihm Luc Bondy das Libretto schrieb.

Wie allgemein bekannt ist, hat einer der besten Freunde Schnitzlers, Hugo von Hofmannsthal, einen Teil seines Ruhmes als Librettist von Richard Strauss erworben – eine der berühmtesten Dichter / Komponist-Gemeinschaften der Operngeschichte, vielleicht die berühmteste überhaupt, bedenkt man, dass eine ähnlich gelungene „Paarung“, nämlich Arrigo Boito und Giuseppe Verdi, weit weniger Werke hervorgebracht hat… Schnitzler hat Hofmannsthal um die Zusammenarbeit mit Strauss nicht aus Gründen der Konkurrenz beneidet, sondern weil er vermutlich gewünscht hätte, dass mehr seiner Werke auf der Opernbühne gelandet wären – oder er hätte auch gerne „seinen“ Komponisten gefunden. Aber Vertonungen blieben punktuell.

Ernst von Dohnanyi komponierte das Pantomimenstück „Der Schleier der Pierrette“, Oscar Straus komponierte den Einakter „Der tapfere Kassian“ (nicht so populär geworden wie sein „Reigen“-Walzer), der tschechische Komponist František Neumann, der später durch seine Zusammenarbeit mit Janacek bekannt wurde, vertonte die „Liebelei“. Aus Schnitzlers „Anatol“ wurde ein Broadway-Musical von Arthur Schwartz und Howard Dietz, sein Einakter „Der grüne Kakadu“ fand gleich zwei Komponisten. Bedauerlicherweise hat keines dieser Werke großen Ruhm errungen oder sich im Repertoire der Opernhäuser gehalten.

Schnitzlers Interesse an Musik manifestierte sich an Opern- und Konzertbesuchen, die sein ganzes Leben durchziehen, und in seinem Bekanntenkreis fanden sich auch Komponisten wie Franz Schreker.

Von besonderem Interesse ist es allerdings, Arthur Schnitzlers Bewunderung für Gustav Mahler, zu dokumentieren. Es handelt sich um eine einseitige Beziehung, die im Grunde keine war – die beiden haben einander ein einziges Mal persönlich getroffen, aber Schnitzler hat Mahler über die Maßen bewundert, wofür es viele Zeugnisse gibt. Sie sind aus Schnitzlers Briefen ebenso zu extrapolieren wie aus seinen Tagebuchaufzeichnungen.

Arthur Schnitzler ist Gustav Mahler, den er oft in der Hofoper und im Konzertsaal bewunderte, ein einziges Mal und das eher unerwartet begegnet, als er am 24. Oktober 1905 mit seiner Gattin Olga bei dem berühmten Geiger Arnold Rosé, der mit Gustav Mahlers Schwester Justine verheiratet war, seinen Besuch machte. Dort hatte sich eine illustre Gesellschaft eingefunden, der Maler Carl Moll und seine Frau – sie waren Mahlers Schwiegereltern -,  der Bühnenbildner Alfred Roller sowie Gustav Mahler und seine berühmt-berüchtigte Frau Alma.

In seinem Tagebuch notierte Schnitzler:

Die 3 letzten zum ersten Mal gesprochen. Mahler sprach über Gesangs- und Opernwesen einfach, klug und war für mich von der Atmosphäre des Genies umgeben.“

Arthur Schnitzler und Gustav Mahler, die einander also persönlich nicht gekannt haben, sondern einander nur mehr oder minder flüchtig begegnet sind, hatten doch einiges gemeinsam – und da ist nicht nur die Rede von ihren Gattinnen, die extrem ehrgeizige Frauen waren, aber ihre musikalischen Lebenspläne infolge der Besitz ergreifenden Ehemänner nicht verwirklichen konnten.

Denn Alma Schindler, aus der später die berüchtigte Alma Mahler-Werfel werden solle, hatte Ambitionen als Komponistin, als sie Gustav Mahler heiratete – und dieser verbot ihr diese Art der Selbstverwirklichung gänzlich (nur wenige Lieder aus ihrer Feder sind erhalten). Und Olga Gussmann, die Arthur Schnitzler heiratete, wollte Sängerin werden, was der Gatte durchaus nicht einsah: Er verstand nie, warum es ihr nicht genügte, Gattin und Mutter von zwei Kindern zu sein. Alma Mahler-Werfel, die sich nach Mahlers Tod allerdings in jeder Hinsicht selbst entfaltete, als Geliebte und Gattin berühmter Männer, als Salondame, als Persönlichkeit der Gesellschaft, war immer ein Vorbild, aber wohl auch ein Dorn im Auge für Olga Schnitzler, die dergleichen nicht erreichte. Gemeinsam ist jedenfalls zu sagen, dass sowohl Mahler wie Schnitzler es mit ihren „musikalischen“ Frauen nicht leicht hatten.

Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Künstler bestand in ihrer Liebe zur Natur, sie konnten und wollten ohne diese nicht sein. Schnitzler war berühmt für seine stundenlangen Spaziergänge, und Gustav Mahler ist, zumindest als er noch in seiner Wiener Direktionszeit in der Auenbruggergasse 2 im 3. Bezirk wohnte, täglich mehrfach im Schnellschritt um das Belvedere herumgegangen. Dabei war für Gustav Mahler etwas so charakteristisch, dass es eigens überliefert wurde: sein Gang. Das notierte auch Schnitzler angesichts von Mahlers Tod als Erinnerung in seinem Tagebuch: 

Gesehen zuletzt voriges Jahr Sommer in der Kärnterstraße. Und ging ihm, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, ein paar Schritte nach, weil mich sein Gang interessierte…“

Mahlers Zweite Symphonie hat Schnitzler überdurchschnittlich oft mit seiner Mutter vierhändig gespielt. So notierte er beispielsweise am 3. Jänner 1905 in seinem Tagebuch:

Mit Mama die 2. Mahler gespielt. Halte Mahler für den größten jetzt lebenden Komponisten.“

Und als er das Werk am 23. November 1907 endlich im Konzertsaal hörte, schrieb er:

„Mahler ist für mich eine der merkwürdigsten, reichsten Persönlichkeiten, die ihr Wesen durch die Musik ausdrücken (im Gegensatz zu Bruckner, der einfach wunderbare Musik von sich gibt), ergreifend, fesselnd, mitteilsam, selbstbiographisch im höchsten Grad.“

Als der Musikschriftsteller Paul Stefan Schnitzler 1910 um einen Beitrag zu Mahlers 50. Geburtstag bat, schrieb dieser, allem leeren Wortgeklingel lebenslang abhold:

„Gerade einer so außerordentlichen Erscheinung gegenüber wie Mahler gäbe es meiner persönlichen Empfindung nach nur eines – Dank. Alles, was darüber hinausgeht, wenigstens so weit ich es auszudrücken vermöchte, schiene mir nicht viel anderes und nicht viel besseres als Geschwätz.“

Er hat sich aber dann doch zu ein paar Zeilen bereit gefunden, die dann lauten:

„Von allen Musikern, die heute schaffen – und manche von ihnen sind mir wahrlich wert – hat keiner mir mehr gegeben als Gustav Mahler. Freude und Ergriffenheit, wie ich sie nur den Größten verdanke.“

Wollte man Schnitzler Tagebücher, über Jahrzehnte hinweg gewissenhaft geführt, auf seine Beziehung zur Musik durchforsten, man könnte vermutlich ein Buch darüber schreiben. Musik hatte für den Mann, der sich ans Klavier setzte und im vierhändigen Spiel vor nichts zurückschreckte – nicht vor Wagners „Meistersingern“ und nicht vor anspruchsvollster Kammermusik oder Symphonien – keineswegs die Funktion von Zerstreuung und Unterhaltung. Musik war für Arthur Schnitzler ein essentieller Bestandteil seines Lebens, und als seine Schwerhörigkeit, die schon in der Mitte seines dritten Lebensjahrzehnts einsetzte, ihn in seinen späten Lebensjahren bis zur immer gravierender werdenden Taubheit quälte, bedauerte er vor allem, des Glücks beraubt zu sein, Musik genießen zu können.

 Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag, den Merker-Autorin Renate Wagner im Rahmen der von Paul Katt gestalteten Ausstellung „Schnitzler in Währing“ im Bezirksmuseum Währing gehalten hat. Dort wurde auch der Klavierauszug der Zweiten Mahler aus Schnitzlers Besitz (zur Verfügung gestellt von seinem Enkel Michael Schnitzler) gezeigt. Arthur Schnitzler pflegte in den Klavierauszügen zu notieren, wann und mit wem er die Werke vierhändig gespielt hatte.

 

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JOHANN NESTROY UND DIE MUSIK

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Zum 150. Todestag von Johann Nestroy:

JOHANN NESTROY UND DIE MUSIK

Der Musik ein Leben lang treu geblieben

 Johann Nestroy, der vor 150 Jahren am 25. Mai 1862 starb, ist der Nachwelt vor allem als Dramatiker bekannt, von dem man weiß, dass er auch ein weit über die Stadt Wien hinaus berühmter Schauspieler war. Doch das war zweifellos nicht das erste Lebensziel des jungen Mannes. Zielstrebig peilte er eine Karriere an, die er auch unter ziemlich günstigen Auspizien begann: Er wurde Opernsänger. Bassist bzw. Bassbariton. Es war immerhin das renommierte Wiener Kärtnertortheater, auf dem er erstmals Opernbretter betrat. Und dann kam doch alles anders…

 Von Renate Wagner

 1801 regiert in Österreich Kaiser Franz II., der Enkel Maria Theresias. Mit dem Frieden von Luneville kann er die Napoleonischen Kriege nur kurzfristig unterbrechen. Trotz der permanenten Kriege herrscht in Wien reges kulturelles Leben – von Beethoven wird sein erstes Klavierkonzert uraufgeführt. Emanuel Schikaneder eröffnet „sein“ neu erbautes Theater an der Wien. Und am 7. Dezember 1801 kommt in der Bräunerstraße 6 Johann Nepomuk Nestroy zur Welt.

Sein Vater ist ein „Zugereister“ aus Schlesien, der in Wien Jus studiert hat und sein Auskommen als Hof- und Gerichtsadvokat findet. Seine Mutter Magdalena, geborene Constantin, stammt aus einer wohlhabenden eingesessenen Familie. Johann ist der zweite Sohn unter acht Geschwistern, von denen drei früh sterben. Johann ist sehr musikalisch, und der Musikunterricht damals so profund, wie man es sich heute – wo er in nicht-spezialisierten Schulen meist nur ganz nebenbei betrieben wird – gar nicht mehr vorstellen kann. Aber das Talent des jungen Johann muss doch ungewöhnlich gewesen sein, sonst tritt man nicht schon als 13jähriger Klavierspieler öffentlich auf.

Aus Familientradition soll Johann Nestroy Jurist werden, er beginnt auch Ende 1816 das Studium an der Juridischen Fakultät, aber bald taucht sein Name bei Aktivitäten auf, die nichts mit der Universität zu tun haben. Wo genau er Gesang studiert hat, ist nicht belegt, aber die Nestroy-Forschung vermutet, dass er Schüler des 1817 gegründeten Konservatoriums war. 1818, schon kurz vor seinem 17. Geburtstag, findet man ihn als Mitwirkenden bei Konzerten, die damals „Musikalische Abendunterhaltungen“ genannt werden.  Nestroy ist offenbar Mitglied eines Männerquartetts, und damals hat er sich zweifellos in denselben Kreisen bewegt wie Franz Schubert. Und damit auch in jenen, die ein Mann frequentierte, den Nestroy vermutlich selbst nie persönlich kennen gelernt hat: Franz Grillparzer. In den Salons von dessen Onkeln (der Familie Sonnleithner) finden Hauskonzerte statt, für die Schubert seine Gesangsstücke schreibt, und zumindest zwei der für Grillparzer so wichtigen vier Schwestern Fröhlich müssen Nestroys Weg gekreuzt haben – Anna Fröhlich, die junge Sängerinnen unterrichtete, und Josefine Fröhlich, die eine einigermaßen bekannte Opernsängerin (einmal auch mit einem Engagement nach Mailand) wurde.

Von Nestroy heißt es jedenfalls, als er später am Kärntnertortheater debutiert, in einer Kritik, dass der junge Mann schon vielfach von „Liebhaberaufführungen“ bekannt sei. Tatsächlich hat er auch schon semi-professionell gesungen, darunter im Dezember 1818 (einen Tag nach seinem 17. Geburtstag) im Redoutensaal in Händels Oratorium „Timotheus“ (das wir heute unter dem Titel „Alexanderfest“ kennen). Als „Nestrui“ oder „Nestruy“, „Nestri“ oder „Nestroi“ liest man den Namen immer wieder in diesen allerersten Anfängen – der „Nestroy“ als Markenzeichen ist noch nicht geboren.

Wie kommt Nestroy nun als Sänger an das Kärntnertortheater, das zweifellos das Ziel seiner Wünsche darstellen muss? Nun, er kennt von seinen Auftritten im Schubert-Kreis sicherlich Johann Michael Vogl, Hofopernsänger am Theater am Kärntnertor und als Bariton vor allem ein wichtiger Mozart-Interpret. Und er ist möglicherweise auch Joseph Weigl begegnet, dem vielseitigen Singspielkomponisten, in dessen erfolgreicher „Schweizerfamilie“ er selbst später zwei verschiedene Rollen verkörpern wird. Weigl ist damals als Theaterkapellmeister am Kärntnertortheater ein entscheidender Mann, wenn man zu Domenico Barbaja vordringen will, dem berüchtigten italienischen Impresario, der ab 1821 das Wiener Haus (gleichzeitig mit dem Teatro San Carlo in Neapel, später dann auch der Scala) leitet (und sein Vermögen nicht nur mit Oper, sondern auch mit Munitionshandel in den Napoleonischen Kriegen macht).

Es gibt viele Geschichten aus Nestroys Leben, und eine berichtet, dass Madame Katharina Zwettlinger, Gattin eines einflussreichen Notariatssekretärs, ihre uneheliche Tochter Wilhelmine (die den Namen „von Nespiesny“ trägt, obwohl ihr Vater ein Graf Zichy gewesen sein soll) unter die Haube bringen will. Und zwar mit dem jungen, gut aussehenden Johann Nestroy, der dazu allerdings einen Job braucht, wie wir heute sagen würden. Das, was man in Wien „Protektion“ nennt, ist wahrlich keine neue Erfindung – das Räderwerk der Vermittlung läuft alle Zeiten wie geschmiert.

Ein Bekannter der Familie, der einflussreiche Josef Karl Rosenbaum (der 1809 Hauptbeteiligter am Raub von Haydns Schädel war!), wird eingespannt. Der wohlhabende Privatier, der offenbar lukrativ bei den Esterhazys gedient hat, Gott und die Welt kennt und der Theaterwissenschaft dankenswerterweise seine Tagebücher hinterlassen hat, ist zwar von den Kuppelei-Versuchen der Madame Zwettlinger gar nicht angetan, aber er vermittelt offenbar Nestroys Vorsingen bei Weigl. Johann Michael Vogl ist eben erst in Pension gegangen, und das Haus braucht eine weitere dunkle Stimme.  Auch das wird ein Grund für Weigl Empfehlung gewesen sein, dass der junge Nestroy „auf Engagement“ in der Oper singen darf. Das bedeutet, dass man ihn an Ort und Stelle ausprobiert – und er nur engagiert wird, wenn er Publikum und Intendanz gefällt. Das stellt ein solches Debut (in Nestroys Fall sind es vier Abende, bis er tatsächlich seinen Kontrakt bekommt) unter erheblichen Druck. Kein Wunder, dass er nervös ist.

 Man gibt Nestroy keine kleine Rolle, man sieht ihn sich gleich richtig an: Am 24. August 1822, er ist 20 Jahre alt (!), gibt er den weisen alten Sarastro in Mozarts „Zauberflöte“. Auf dem Theaterzettel des Abends ist zu lesen: „Herr Nestroy wird in der Rolle des Sarastro seinen ersten theatralischen Versuch wagen, und empfiehlt sich der Nachsicht des Publikums“.

Die Kritiken vermerken, dass er gut aussieht („jugendlich kräftige Gestalt und gefällige Bildung“), aber auch, dass die Stimme in der Höhe schön und biegsam, in der Tiefe dagegen etwas kraftlos ist. Spätere Rollen zeigen, dass Nestroy eher ein Bassbariton ist – und wahrscheinlich eine gute Durchschnittsstimme hat, aber keine, mit der man eine große Karriere machen könnte.

Bei seinem ersten Auftreten ist er unsicher, man merkt es, er hat noch keine Bühnenroutine, gestikuliert hilflos und daher zu stark. Aber seine Freunde finden  sich natürlich auf der Galerie im fünften Stockwerk des Hauses ein, bilden eine private „Claque“ und überschütten ihn mit Beifall. Damals ist es noch üblich, dass Sänger (und Schauspieler), die für einen Solovorhang herausgerufen werden, sich bedanken dürfen. Nestroy sagt, wie man erfährt: „In diesen heiligen Hallen herrschet Nachsicht und Gnade.“

Nestroy, der zu diesem Anlass seines Debuts stolz damit beginnt, Listen über seine Auftreten zu führen (er hält es allerdings nicht sein Leben lang durch – es wird einfach zu viel, wenn er später als Schauspieler oft Abend für Abend auf der Bühne steht), verzeichnet, dass er als „zweites Debut“ am 31. August 1822  noch mal den Sarastro singt und „am Schlusse hervogeruffen“ wird, am 3. September 1822 als drittes Debut Sargines Vater in „Sargine“ von Ferdinando Paer gibt, schließlich am 21. September 1822 als viertes Debut den Kurt in „Raoul der Blaubart“ von A.E.M. Gretry.

Als er am 8. Oktober wieder den Kurt singt, als seine fünfte Aufführung am Haus, vermerkt er: „Ich hatte unter dieser Zeit mit Barbaja Contract geschlossen für 2 Jahre das erste für einen Gehalt von 600 fl.C.M., das zweite für 1000 fl C.M. und trat diesmahl zum erstenmahl als engagiertes Mitglied auf.“

Die 600 Gulden „Conventionsmünze“ (nach den Kriegen war eine Währungsreform von der „Wiener Währung“ zur „C.M.“ erfolgt – im Verhältnis von 250 Gulden W.W. gleich 100 Gulden CM) reichen jedenfalls nicht zum Heiraten. Aber das ist wohl nicht der Grund, dass Nestroy nur ein Jahr im Haus bleibt – vielmehr dürfte es seinen Ehrgeiz nicht befriedigt haben, dass er nicht in die erste Reihe der Ensemblemitglieder vordringen kann. Eine seiner Kolleginnen beispielsweise, mit der er auf der Bühne steht, Caroline Unger, bringt es auf den Opernbühnen zu Weltruhm, wird von Barbaja nach Italien mitgenommen und später an derScalabei der Uraufführung die „Straniera“ von Bellini singen… Nestroy hat keine Chance, mit seiner Stimme den Sprung auf die großen Bühnen Italiens zu schaffen.

Es gibt viel Interessantes zu vermerken in diesem Jahr, das Nestroy im Kärntnertortheater verbringt (und auch gelegentlich im damals gleichfalls von Barbaja geleiteten Theater an der Wien singt, das später der Ort seiner Triumphe als Autor und Schauspieler wird). Er verkörpert in dieser Zeit zehn verschiedene Rollen, und wir kennen von den acht Komponisten, in deren Werken er auftritt, nur noch drei (!). Mozart natürlich. Dann Beethoven und schließlich Rossini. Gretry und Paer sind ebenso aus dem Spielplänen verschwunden wie Franz Schoberlechner, Adalbert Gyrowetz oder Pierre Gaveaux (der immerhin noch vor Beethoven eine „ Léonore ou l’Amour conjugal“ nach Jean-Nicolas Bouilly  schuf).

Im Laufe seiner Opernkarriere, die er noch in Amsterdam, in Brünn und in Graz fortsetzen wird, bis er 1831 endgültig und über Jahrzehnte ausschließlich zum Theaterschauspieler mutiert, werden noch viele halb und ganz vergessene Komponistennamen den Weg dieses unglaublich fleißigen Johann Nestroy kreuzen, der auch die Gabe hat, sehr schnell zu lernen: Den Douglas in „Das Fräulein See“ übernimmt er in wenigen Tagen und nach nur einer Probe.

Dieses See-Fräulein ist die heute noch einigermaßen bekannte „Donna del Lago“ des Gioacchino Rossini, jenes Künstlers, dessen Ruhm in und außerhalb Italiens mit Barbajas Impresario-Künsten (und Einnahmen) eng verbunden ist und von dem Nestroy nicht weniger als 15 verschiedene Partien in 10 verschiedenen Opern singen wird. Darunter den Figaro und den Basilio (!) im „Barbier von Sevilla“, den Dandini und den Montefiascone (!) in „La Cenerentola“, damals „Aschenbrödel“ genannt, den Mustafa in der „Italienerin von Algier“.

Bei Mozart wird er Don Giovanni und Masetto sein, Figaro und Graf Almaviva, Sarastro und Papageno, Publius und Annius und, weil er früh auch seine Eignung im Sprechstück unter Beweis stellt, der Bassa Selim. Was Werke und Rollen betrifft, die wir noch kennen, findet sich bei 368 Auftritten in 86 Rollen in 66 Stücken nur noch der Kaspar im „Freischütz“, den Nestroy 33mal verkörpert hat, darunter als Debutrolle am Deutschen Theater in Amsterdam. Dorthin wechselt Nestroy 1823 – mit einer schwangeren Gattin als Begleitung: die versprochene Gage in Holland reicht für eine Eheschließung aus (und diese ist offenbar schon dringlich).

Aus der Wiener Frühzeit soll nur noch eine Opernaufführung erwähnt werden, in der Nestroy mitwirkt – denn an diesem 3. November 1822, als er erstmals den Minister Fernando in „Fidelio“ singt (später ist er auch der Pizarro), wäre beinahe Ludwig van Beethoven selbst am Dirigentenpult gestanden. Die Festaufführung ist dem Geburtstag der Kaiserin Caroline Auguste gewidmet, der „äußere Schauplatz“ wird beleuchtet (was heißt, dass man vor dem Haus vermutlich die Öllaternen hochschraubt, denn Gaslaternen kommen erst Mitte der vierziger Jahre auf), die Kaiserhymne abgesungen. Nur Beethoven, der noch versucht hatte, eine Probe zu leiten, eilt verzweifelt davon, weil er, wie er seinem Adlatus Schindler aufschreibt, nicht mehr weitermachen kann – er hört einfach nichts. Der Abend findet statt, die junge Wilhelmine Schröder debutiert, und auch sie macht (als Wilhelmine Schröder-Devrient) eine ganz große Karriere in der Welt der Oper, wird Wagners erste Senta und Venus sein. Johann Nestroy wird Schauspieler und Dramatiker.

Man weiß, dass Nestroy im Lauf seines Arbeitslebens als Dramatiker  höchsten Wert auf qualitätvolle Musik legt – kein Wunder, sie kann den Erfolg oder Misserfolg eines Couplets mitentscheiden. Abgesehen von den so genannten „Quodlibets“, den musikalischen Einlagen mit Opernparodien, die oft einen Höhepunkt der Aufführung darstellen (diese Opernparodien blieben bei Nestroy-Aufführungen bis in die siebziger, eventuell achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts beliebt) und wo Nestroy mit seiner Opernstimme natürlich auftrumpfen kann.

Er hat das Glück, von seinen Anfängen im Theater an der Wien an über Jahrzehnte, genau bis 1847, mit dem gleichaltrigen Adolf Müller (1801-1886) zusammen arbeiten zu können, der als eines der außerordentlichsten Talente gilt. So manches, das Müller für ihn schreibt – wie das Lied der drei Gesellen in „Lumpazivagabundus“: „Wir wollen in die Stadt marschieren“ –  wird wie ein Schlager auf den Straßen nachgesungen. (Müller schlägt später noch den Bogen bis zu den Volksstücken von Ludwig Anzengruber, die er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Musik versieht.)

Von 1847 bis zu seinem frühen Tod 1850 ist der Komponist Michael Hebenstreit (1812-1850) Nestroys musikalischer Begleiter und an einer Anzahl seiner Erfolge beteiligt. Für drei Werke kommt dann Franz Carl Stenzel (1829-1864) an die Reihe.

Aber zur Oper kehrt Nestroy in seinen späten Lebensjahren doch noch zurück – zumindest beinahe: Als das Genre der Opernparodie durch das Auftreten von Richard Wagner und dessen „Zukunftsmusik“ wieder angeheizt wird, schreibt Nestroy eine bis heute köstliche „Tannhäuser“-Parodie und spielt selbst den Landgraf, hier Purzel genannt („Im Venusberg vergaß er Ehr’ und Pflicht, und ich, der Landgraf, komm’ zu so was nicht“), eine nicht ganz so gelungene, aber auch sehr komische „Lohengrin“-Parodie folgt: Beide Stücke profitieren bis heute von der schlechtweg brillanten Paraphrase des Originals durch Komponist Carl Binder (1816-1860), der für Nestroy nach Müller sein zweiter adäquater Partner wird.

Halt, einer noch: Anton M. Storch (1813-1887) ist zur Stelle, als Nestroy (schon in seinem Todesjahr 1862) einen Komponisten für sein vorletztes Stück, die „Früheren Verhältnisse“, benötigt: So, wie Storch „Theater, o Theater Du!“ in die Kehle der Sopranistin gelegt hat, haben zahlreiche Interpretinnen der Pepi Amsel dieses Couplet mit außerordentlichem Erfolg geträllert.

 Und schließlich fördert Nestroy noch die Anfänge von Jacques Offenbach in Wien entscheidend mit, er verkörpert fünf Offenbach-Rollen, besonders brillant den Jupiter in „Orpheus in der Unterwelt“ und den Pan in „Daphnis und Chloe“, aber die Wiener lieben ihn auch als Herr von Storch in „Schuhflicker und Millionär“, als Tschin Tschin – und vor allem als Jungfer Barbara Kletzenstingl in „Damen vom Stand“. Ewig schade, dass Nestroy, der 1862 stirbt, nicht mehr Offenbachs „Schöne Helena“ von 1864 erlebt – „Menelaos, der Gute“ wäre ihm wohl auf den Leib geschrieben gewesen. Und von Jacques Offenbach selbst stammte die Musik, als Nestroy aus dessen Vorlage „sein“ Stück, den „Häuptling Abendwind“ machte.

Sein Weg von Mozart über Rossini bis zum travestierten Wagner und Offenbach wurde von seiner „anderen“ Karriere zwar überstrahlt, aber gewissermaßen ist Johann Nestroy der Musik sein Leben lang treu geblieben.

 

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ZUM 150. GEBURTSTAG VON GUSTAV KLIMT

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14. Juli 2012:  150. GEBURTSTAG VON GUSTAV KLIMT

Superstar „Der Kuss“

Man sagt Klimt und denke an Gold und Ornamente. An den „Kuss“ und schöne Frauen. An Erfolge und Skandale. Auf dem Kunstmarkt sind seine Gemälde Hunderte von Millionen Dollar wert. Rund um den 150. Geburtstag bestätigt sich, was man längst weiß: Die österreichische Kunst hat keinen spektakuläreren Exponenten als Gustav Klimt. Dabei wollte der Mann der Superlative nichts anderes sein, als das, was er war: einfach ein Künstler.

Von Renate Wagner

Er hat nie sich selbst gemalt, und das sagt etwas aus. Das Selbstbildnis ist ein Kunstgenre, das kaum ein Maler verschmäht hat. Gustav Klimt hat sich immer nur für andere interessiert, kaum für sich selbst. Das scheint in einer Welt der egomanischen Genies eine Rarität: das bescheidene Genie. Ein Mann, der in seinem langen blauen oder braunen Malerkittel versinkt und so wenig von sich persönlich hermacht. Die Mitwelt rieb sich in den künstlerischen Auseinandersetzungen der Epoche an ihm wund. Klimt blieb in seinem Atelier, wo immer es ihm möglich war.

Er war ein Arbeitstier. Sein Geheimnis war sein Talent, war seine Phantasie, war seine Schöpferkraft, die Können und Wollen zu so singulärem Wirken zusammen brachte. Das Talent zeigte sich schon bei dem Jungen in der Schule. Und die Eltern, bescheidene Handwerker, ermöglichten ihrem am 14. Juli 1862 geborenen Sohn Gustav die Aufnahmeprüfung in die Kunstgewerbeschule – weil er so auffallend gut zeichnete.

In der Kunstgewerbeschule bereits fand Gustav einen Freund namens Franz Matsch. Und dann kam auch der um zwei Jahre jüngere Bruder Ernst an die Schule, auch er ein hoch Begabter. Und weil die drei Geld verdienen mussten, fanden sie sich zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammen, die sie „die Künstler-Compagnie“ nannten und die Gustav Klimt früh auch mit den Gesetzen des Marktes vertraut machte.

Denn wenn man schnell, gut und verlässlich arbeitete, dann waren die achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts – künstlerisch geprägt vom Historismus-Rausch der Welt Hans Makarts – eine goldene Zeit für bildende Künstler. Die Gebäude der Ringstraße entstanden, der Bauboom übertrug sich auf die gesamte Monarchie, es gab nahezu mehr Arbeit als Künstler. Heute noch kann man im linken Stiegenhaus des Burgtheaters den Nacken recken und dort Fresken von Gustav Klimt sehen. Das Kunsthistorische Museum hat das Klimt-Jahr benützt, um eine Balustrade zu errichten, die erlaubt, die Klimt-Malereien des großen Stiegenhauses ganz aus der Nähe zu betrachten.

Ein ähnlicher Hochbau ermöglicht es in der Secession, im Klimt-Jahr seinem legendären Beethoven-Fries so nahe zu kommen wie noch nie. Aber dieses Kunstwerk war später, aus dem Jahre 1908. Da hatte Gustav Klimt schon die „Teamarbeit“ mit Bruder (er starb 1892) und Freund hinter sich gelassen und war – ja, nahezu schon zum Superstar geworden.

Nicht erst in unserer Medienwelt ist ein Skandal die beste Art und Weise, sich der Öffentlichkeit einzuprägen: Klimt hatte Mitte der neunziger Jahre den Auftrag erhalten, die „Fakultätsbilder“ für die neu errichtete Universität zu malen –Allegorien für Philosophie, Medizin und Jus (der Auftrag für die Theologie ging an Franz Matsch, mit dem er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zusammen arbeitete). Den Herrn Professoren gefielen schon Klimts Entwürfe nicht, die ihnen viel zu radikal waren, zu nackt (nicht im Rubens-Makart-Sinn auf erotisch-sinnlich und platt-verführerisch, sondern sphinxartig-fremd) und vor allem viel zu düster, keine hymnischen Verherrlichungen der Wissenschaften, wie sie der Historismus geliefert hätte, sondern kryptische Meisterwerke schon im dezidiert neuen, umstrittenen „Jugendstil“, dem die Fakultätsmitglieder noch nicht gewachsen war. Die Bilder wurden nie an der Decke des großen Festsaales angebracht, Klimt kaufte sie nach langen Jahren zäher Kämpfe zurück. Sie sind in den letzten Kriegstagen verbrannt – es gibt nur noch die Skizzen. 2005 und nun im Klimt-Jahr wieder hat man Reproduktionen an den Stellen angebracht, wo sie einst vorgesehen waren und nie hingelangt sind…

Auch der Beethoven-Fries von 1908, für uns heute ein singuläres Meisterwerk, wurde von vielen Zeitgenossen heftig abgelehnt (nicht nur unter dem Vorwand der „Pornographie“ – Klimts Phantasie, in der die Monster und das Böse ihren Platz haben, ist für konventionelle Gemüter einfach zu verstörend).

Dies waren nur zwei der vielen Erregungen rund um die „Secession“, jene neue Kunstbewegung des Fin de Siècle, die sich auch ihr eigenes spektakuläres Gebäude mit dem goldenen Kuppeldach schuf und in der Zeitschrift „Ver Sacrum“ ihre Theorien klarlegte. Das Klimt-Jahr, das alle Museen auch in seinen Dokumenten stöbern lässt, zeigt das Auf und Ab der damaligen Kunstszene, als ein Teil der „Neuerer“ sich von dem Künstlerhaus-Verband und seinem Konservativismus abwandte, die „Secession“ gründete und den neuen Stil als „Jugendstil“ bezeichnete – Gustav Klimt war Mitbegründer und erster Präsident.

Keiner hat nachdrücklicher diese Welt der Stilisierung (mit besonders starker Ornamentik), kryptischer Symbolik, fast expressionistischer Ausdruckskraft, dabei immer wieder impressionistischer Zartheit verkörpert wie Gustav Klimt mit seinen Werken. Ob seine ätherischen Damenporträts wie die „goldene  Adele“, die auch jenseits künstlerischer Erwägungen als Restitutionsfall weltweit Schlagzeilen machte, mit 135 Millionen Dollar das damals teuerste Gemälde der Welt war und heute in New York zuhause ist, ob seine vor allem im Salzkammergut geschaffenen Landschaften – Gustav Klimt führt seine Betrachter bis heute in eine irisierende, immer wieder erstaunliche Welt optischer Wunder, wie nur ein außerordentlicher Künstler sie erdenken kann. „Der Kuss“, 1907 als Höhepunkt seiner „goldenen Periode“ entstanden, lockt auch heute noch Tausendschaften von Touristen täglich ins Obere Belvedere, wo man dieses Schmuck-, Prunk- und Paradestück hütet.

Klimt schuf Werk um Werk als unermüdlicher Arbeiter in seinen Ateliers, erst in der Josefstadt, dann in Hietzing (eine Villa mit Nebenhaus in einem Garten, die im Klimt-Jahr endlich renoviert und im September endgültig der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll). Was in diesen Ateliers geschah abgesehen von nachweislicher Arbeit (Klimt hinterließ neben den Gemälden Tausende von Zeichnungen) – der sportliche Maler hat nicht nur mit seinen männlichen Modellen gerungen, er ist auch zahlreichen seiner weiblichen Modelle immerhin nahe genug gekommen, so dass stets die Rede von 15 unehelichen Kindern war, die er hinterlassen haben soll (die Klimt-Forschung hat angesichts des Jubiläums noch einmal nachgefasst und kann angeblich nur sechs bestätigen – immerhin). Zwei Söhne von Marie Zimmermann, einem seiner berühmtesten Modelle, sind verbürgt. Und etliche der schönen Damen der Gesellschaft wie Sonja Knips, Serena Lederer oder Adele Bloch-Bauer riskierten ihren Ruf damit, sich von Klimt porträtieren zu lassen – denn man sagte ihnen sofort ein Verhältnis mit ihm nach.

Dabei war der Frauenheld absolut kein Salonlöwe, und im Grunde lebte er in einem Frauenhaushalt (umsorgt von der Mutter, die 1915 starb, und seinen zwei Schwestern) und führte äußerlich ein absolut bürgerliches Leben. Seine „ewige Geliebte“ war Emilie Flöge, die ihrerseits eine Exponentin der modernen Kunst war, indem sie in ihrem Modesalon die korsettfreien, fließenden Reformkleider propagierte und vertrieb. Er hatte sie 1891 kennen gelernt, und sie blieben ein Paar bis zu Klimts frühem Ende. Das wunderschöne Gemälde, das er von ihr schuf, verkaufte er allerdings bald – angeblich weil es ihr nicht gefiel. Heute ist das Wien-Museum glücklicher Besitzer des Meisterwerks. Apropos Frauen: Dass Klimt 1899 ein zweijähriges Verhältnis mit der jungen, schönen, aggressiven Alma Schindler unterhielt, die später Gustav Mahler heiratete, lief so nebenbei…

Klimt reiste ungern, gerade, dass er sich nach Brüssel aufmachte, um jenes Palais Stoclet zu sehen, das Josef Hoffmann für den reichen Industriellen erbaute und für das er beauftrag worden war, Innendekorationen zu schaffen. Im Sommer war es etwas anderes, sich von Wien wegzubegeben. Ab 1900 bis 1916, zwei Jahre vor seinem Tod (der Weltkrieg erlaubte dann nicht mehr viel „Sommerfrische“) gönnte Klimt sich gut zwei Monate am Attersee – auch zur Arbeit, aber ebenso zur Erholung. Er brauchte die Natur, den See, die Abwechslung. Er hat hier nicht nur – wie immer – viel gearbeitet, sondern nahm sich Zeit und Ruhe zum Schwimmen, zum Rudern, zum abendlichen Kegeln.

Wir sind mit Klimt-Fotos nicht reichlich bestückt, ein paar Porträtfotos, um die niemand herumkam, wenig sonst. Nur die Sommer am Attersee sind eine Ausnahme. Da wurde „geknipst“. Hier erleben wir Klimt am See, im Boot (selbstverständlich auch im Malerkittel), das Ruder in der Hand, beim Spazierengehen, mit Bekannten, und immer wieder mit Emilie, die in ihren weit flatternden Gewändern an seiner Seite einherschwebt. Ein besonders interessantes Foto zeigt ihn dabei, wie er den Attersee durch das Fernrohr betrachtet.

In die Gegend ist er durch Emilie gekommen – ihr Bruder war der Schwiegersohn des Tischlermeisters Paulick, der sich in Seewalchen eine Sommervilla gebaut hatte. Klimt verbrachte hier viel Zeit, aber er wohnte mit Emilie auch in der Brauerei Litzlberg, ab 1908 dann in der Ortschaft Kammer, die er so unvergleichlich in vielen Ansichten gemalt hat, ab 1914 in Weißenbach am Attersee. Er hat das Salzkammergut genossen und als Künstler reichlich seine Inspirationen daraus bezogen. Man kann sagen, dass Klimt seinen Themenschwerpunkt der Landschaftsmalerei dem Salzkammergut verdankt: Denn in Wien allein hätte er nie diese imposante Fülle von Naturgemälden schaffen können.

Wenn das Leopold Museum, diese Klimt-Hochburg, nun an seinem 150. Geburtstag in Kammer am Attersee ein Klimt-Dokumentationszentrum eröffnet, gibt es reichlich Material, das bei dieser Gelegenheit noch weit ausführlicher zu bearbeiten ist, als es bisher geschah. Das Zentrum befindet sich an jener Schlossallee, die er in einem seiner berühmtesten Landschaftsgemälde festgehalten hat, in der genialen „Allee vor Schloss Kammer“ – und auch der See, Apfelbäume oder Blumen inspirierten ihn hier. Klimt hat die Entwürfe für den Stoclet-Fries in Brüssel in der Villa Oleander in Kammer geschaffen – auch sie werden in dem neuen Ausstellungszentrum zu sehen sein.

Es wird in Kammer zu dem Zentrum auch einen Klimt-Shop geben und damit einen Eindruck davon vermitteln, was dem Wien Museum in seiner Klimt-Ausstellung ein eigener „Programmpunkt“ war: das Merchandising. Es ist schier unglaublich, wie die Motive von Gustav Klimt verarbeitet und vermarktet werden. „Der Kuss“ auf Tasche, Schirm, Halstuch, Krawatte, neuerdings auch auf Bonbonschachteln, Emilie Flöge auf Kaffeetassen und Marmeladegläsern, Klimt-Muster auf Schuhen, zu Ohrringen verarbeitet, Klimt-Wein und Klimt-Tee, selbst Klimt-Adventkalender – es gibt nichts, was es nicht gibt. Über Geschmack lässt sich in diesem Fall nicht streiten, denn er spielt nicht mit. Aber als Zeichen für übergroße, gut verkäufliche Popularität ist es wohl zu nehmen.

Der Künstler, der im Jänner 1918 einen Schlaganfall erlitt („Emilie soll kommen“ sollen seine letzten Worte gewesen sein) und am 6. Februar 1918 starb, wurde am Hietzinger Friedhof begraben, wo er heute noch ruht. Seine großen Zeitgenossen wussten, was sie verloren hatten. Die Nachwelt weiß, was sie an Gustav Klimt hat. Sie sollte nur jenseits von „Kuss“ und schönen Ornamenten genauer hinsehen. Es lohnt sich, den „ganzen“ Klimt in seiner genialen Komplexität zu betrachten.

 
 Foto: Manfred Werner

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Die MERKER-Online Rezension – Gedanken von Thomas Prochazka

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Was kann eine Rezension im MERKEROnline leisten?

Wer für den MERKEROnline Rezensionen schreibt, muss vor allem eines sein — schnell, denn Nichts altert so schnell wie die Neuigkeiten von gestern.

Während Vertreter der großen Tageszeitungen (und manchmal auch anderer elektronischer Medien) noch an ihren Bleistiften kauen, kann man im MERKEROnline bereits eine, manchmal sogar zwei Meinungen lesen. Dass diese oft konträr ausfallen, ist auch darauf zurückzuführen sein, daß nicht alle Rezensenten ihre Zelte auf der Galerie aufschlagen (und ihnen daher herzlich gleichgültig ist, ob die seit Jahren gesperrte Dachterrasse wieder geöffnet ist). Der Höreindruck in der dritten Reihe einer Parterre-Loge wird auch naturgemäß ein anderer sein als z.B. in der ersten Reihe einer Proszeniumsloge, im Stehparterre oder eben auf der Galerie. Trotzdem wird man wohl alle Plätze als gleichberechtigt ansehen müssen.

Wer die Berichterstattung im MERKEROnline über einen längeren Zeitraum verfolgt, erkennt rasch, dass die Rezensenten unterschiedliche Schwerpunkte setzen: Da weigert sich der eine, überhaupt von unbefriedigenden Aufführungen und Sängerleistungen zu berichten, da nimmt’s der andere mit der Tonartensymbolik und den Partiturangaben besonders genau, während ein dritter die Intentionen des Regisseurs in den Vordergrund stellt und ein vierter nur mit Superlativen sein Auskommen findet. — Der kundige Leser weiß darum.

Über alldem schwebt allerdings eine einzige, große Frage: Was soll, was kann eine Rezension im MERKEROnline leisten?

Im Gegensatz zu den Tageszeitungen lesen den MERKEROnline vor allem Opernbegeisterte und -interessierte. Kann man darob einen höheren Wissensstand betreffend Regiehandwerk und Stimmtechnik als bei Tageszeitungslesern voraussetzen? Soll eine Rezension im MERKEROnline sich vor allem mit den gesanglichen bzw. gesangstechnischen Aspekten befassen? Oder muss die theatralische Wirkung einer Aufführung (zumal bei einer Neuproduktion) im Vordergrund stehen?

Soll man Sängerleistungen mit heutigen Maßstäben messen und in Lobeshymnen ausbrechen oder die Vergangenheit — welche sich beim genaueren Hinhören oftmals als gar nicht so glorreich entpuppt wie so oft behauptet — im Hinterkopf behalten? Ist es statthaft, alte, liebgewonnene Studioaufnahmen mit heutigen Live-Erlebnissen zu vergleichen? Darf nur, wer „die“ Cotrubas oder „die“ Gruberova (um den Damen ihre Wiener Adelstitel nicht vorzuenthalten) als Gilda auf der Bühne gesehen hat, Vergleiche mit heute auftretenden Sängerinnen anstellen?

Dazu gesellen sich ethische und gesellschaftliche Fragen: Darf man über eine Aufführung berichten, ohne die Partitur/den Klavierauszug studiert und sich nach bestem Wissen und Gewissen vorbereitet zu haben? Ist es moralisch vertretbar, Mitwirkende eine Produktion zu interviewen und dann diese Produktion zu rezensieren? Gilt selbiges auch für Aufführungen, in welchen Sänger mitwirken, mit welchen man geschäftliche oder private Beziehungen unterhält?

Darf man heute noch Rezensionen mit der — manchmal verkürzenden, aber großteils treffsicheren — Knappheit z.B. eines Kurt Blaukopf, Franz Endler oder Karl Löbl verfassen? Oder soll man ähnlich feuilletonistisch agieren wie jene, die z.B. von Tosca zu Tosca eilen und nach immer neuen szenischen Umsetzungen gieren? Ist es fahrlässig, sich nicht auf jede Rezension entsprechend vorbereitet zu haben; — etwa, weil man gestern der Eröffnung in Bayreuth beiwohnte und heute aus Salzburg berichten soll?

Sind — nicht zuletzt auch im Wunsch, seiner Leserschaft die eine oder andere neue Erkenntnis zu bieten — längere Erklärungen seitens des Rezensenten gefragt, dem großen Leonard Bernstein nacheifernd, dessen Ausspruch „I love watching people learn.“ einem für immer im Gedächtnis bleiben wird?

Fragen über Fragen also, welche nicht nur die freiwilligen Enthusiasten beim MERKEROnline betreffen, sondern welchen sich auch professionelle Berichterstatter bzw. deren Chefredakteure immer wieder auf’s Neue zu stellen hätten.

Von einer idée fixe sollte man sich allerdings verabschieden: Dass unbezahlte Rezensenten für oder wider die Leitungen von Häusern schreiben, um den Direktoren zu helfen oder zu schaden. Diese Vorstellung ist zwar charmant, aber das hieße, den Einfluss der Berichterstattung im MERKEROnline zu überschätzen. Oder?

Thomas Prochazka
MERKEROnline
21. September 2015

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NACHDENKEN ÜBER GRILLPARZER

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VORTRAG
Gehalten im Rahmen des Grillparzer Symposions
Wien, 21. Oktober 2016

RENATE WAGNER

NACHDENKEN ÜBER GRILLPARZER

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Herzlichen Dank, dass Sie sich für einen Arbeitsbericht, einen Nachdenk-Bericht über eine zu verfassende Grillparzer-Biographie interessieren.

Der Vortrag muss, das liegt in der Natur der Sache, natürlich sehr persönlich ausfallen.

Es ist mir im Laufe meines Lebens geglückt, Biographien über Arthur Schnitzler, Ferdinand Raimund und Johann Nestroy zu schreiben, aber daneben hat mich Franz Grillparzer mit seinem Werk immer begleitet.

Und das Bedürfnis, mich ihm biographisch zu nähern, ist ungebrochen und geht schon auf meine Jugend zurück. Immer hat mich der Mensch Grillparzer interessiert. Bereits in meinen Teenager-Jahren fiel mir die Biographie von Josef Nadler, die ich in der Bibliothek meines Vaters fand, in die Hände. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten las ich alles, was ich Biographisches im Buchhandel fand – was gar nicht so besonders viel war. Der wieder aufgelegte Auernheimer, die Rowohlt-Monographie, und 1990 gab es dann natürlich als wichtigsten Beitrag Politzer, dann auch Humbert Fink.

Dann fing ich an, nach alten Biographien zu suchen und, ZVAB sei Dank, ich fand eine Menge. Dank übrigens auch an Amazon, die als Book on Demand den alten Laube, den alten Frankl nachdrucken: Man hat zwar dann kein schönes, altes, nach Staub riechendes Buch in der Hand, wohl aber den Text, den man sucht.

Eine neue Biographie zu verfassen, kann allerdings nicht bedeuten, sich die alten herzunehmen und sie ab- oder umzuschreiben.

Nachdenken, wie man eine Biographie angeht, heißt, sich der tausendenfachen Wege, der schier grenzenlosen Zugänge bewusst zu sein, die man zu einem Thema nehmen kann.

Dazu steht man im Falle von Grillparzer vor einer nicht zu bewältigenden Sekundärliteratur, die hauptsächlich das Werk und Einzelaspekte interpretiert. Wenn man wirklich alle Anmerkungen der Germanistik vor allem, der Theaterwissenschaft auch, der Soziologie und Geschichte lesen wollte, die zu den einzelnen Grillparzer-Werken verfasst wurden – man wäre Jahrzehnte über den eigenen Tod hinaus beschäftigt, wobei auch Sonderthemen immer wieder gedreht und gewendet werden.

Eine persönliche Geschichte dazu – dass ich nämlich einmal aus einer Germanistik-Vorlesung des von mir über alle Maßen geschätzten Professor Herbert Seidler hinausgegangen, ja, hinaus gelaufen bin, als er nicht aufhören wollte, die „und“ in einem Hofmannsthal-Gedicht zu zählen.

„Das kann es wohl nicht sein“, dachte ich damals – aber ich war ohnedies immer eine begeisterte Tochter der Theaterwissenschaft und eine sehr kritische Tochter der Germanistik.

Aber wenn ich nun, mit aller gebührenden Bewunderung, „Grillparzers dramatischer Stil“ von Joachim Kaiser lese und er ähnlich ausführliche Überlegungen zum Gedankenstrich bei Grillparzer anstellt – dann weiß ich natürlich, dass er von seinem Standpunkt aus recht hat und dass dies legitime Überlegungen der Germanistik  sind. Tatsächlich aber bedeutet es in meinen Augen auch, to know more and more about less and less, und das könnte dann Wissenschaft bedeuten, die nur noch für sich selbst besteht.

Für den Biographen verfängt das nicht, damit kann man sich für die Lebensgeschichte gar nicht abgeben. Nachdenken heißt also auch auswählen und entscheiden und manche Spezifizierung beiseite zu lassen. Selektieren, überlegen, was für das, was man sagen, berichten und darstellen will, relevant ist und was nicht.

Detaillierte Werkinterpretation nach mannigfaltigen Gesichtspunkten sind folglich, meiner Meinung nach, nur sekundär die Aufgabe des Biographen.

Natürlich: Ohne Werk kein Dichter – aber geht es nicht vor allem darum, den Zusammenhang zwischen Leben und Werk möglichst klar herauszuarbeiten, was meines Erachtens eine der spannendsten Herausforderungen beim Biographieschreiben ist?

Warum, muss man sich fragen, verfasst ein ganz bestimmter Mensch zu einer ganz bestimmten Zeit, möglicherweise auch noch überlegt: warum an diesem ganz bestimmten Ort ein ganz bestimmtes Werk, das nur ihm gehört, nur durch ihn möglich ist?

Das dann mit ihm in die Welt tritt und für immer dorthin gehört – wenn es denn Werke sind wie jene Grillparzers, an deren Wert und Bestand wir nicht zweifeln.

Wurde das nicht alles schon dargestellt? Ja und nein.
Und auch nicht hier und jetzt.
Denn Grillparzer ist uns in der Gegenwart als Gegenstand des Interesses weitgehend verloren gegangen.

Das beweisen Ihnen nicht zuletzt die Bühnenspielpläne. Das Burgtheater hat zuletzt 2013 eine veräppelnde Parodie der „Ahnfrau“ gespielt.

Die Zeiten der großen Auseinandersetzungen mit seinem Werk  liegen weit zurück – der legendäre Burgtheaer-„Bruderzwist“ mit Attila Hörbiger war in den sechziger Jahren, 1980 versuchte Leopold Lindtberg das Stück noch einmal mit Romuald Pekny – seither war dieses Schlüsselstück des Österreichischen in Wien nicht mehr zu sehen.
Sie wissen schon –
Auf halben Wegen und zu halber Tat mit halben Mitteln zauderhaft zu streben…

Das gibt eine weitere Antwort darauf, warum es eine neue Biographie geben sollte, auch wenn von den Fakten her möglicherweise alles zusammen getragen und alles gesagt ist.

Denn auch Dichter unterliegen dem „Zeitgeist“ der Nachwelt.

Wo sind die Zeiten, als man Grillparzer bei jeder Gelegenheit als nationale Referenz des Österreichischen herangezogen hat, als die erste Burgtheater-Vorstellung nach dem Zweiten Weltkrieg, damals noch im Ronacher, selbstverständlich der „Sappho“ galt, als man das wieder aufgebaute Haus 1955 nicht mit Goethe, wie zuerst überlegt wurde, sondern mit „König Ottokars Glück und Ende“ eröffnete? Mit dem, wie man es damals noch empfand, „Nationaldichter“. Der natürlich auch zur „Repräsentation“ herangezogen wurde.

Aber heute?

Wo würde man heute bei Österreich-Feiern noch „Es ist ein gutes Land“ zitieren lassen? Wer würde heute noch den Ausruf „O gutes Land! O Vaterland!“ wagen, auch mit Rücksicht auf die vielen Neuankömmlinge in unserer Heimat, die ihr Vaterland zurücklassen mussten?
Wir leben in einer sehr veränderten Welt.
Und die große Zeit Grillparzers als „vaterländischer“ Dichter ist vorbei.

Er wurde übrigens immer wieder benützt, das beweist der Weg durch die Biographien und Interpretationen.

Es gab jene Epoche, da man ihn unbedingt als den „Dichter der Deutschen“ reklamieren wollte, wo er doch Österreicher war wie kaum einer.
Aber freilich, 1946 wollte man ihn ganz schnell wieder zum „klassischen Wiener“ machen, mit seiner Hilfe sozusagen nach dem Gespenst des Deutschtums – aufgezwungen oder eher nicht, vorbei war vorbei –   zurück zum Österreichertum.
Ein Österreichertum, das, sobald es ein sattes, prosperierendes Österreich wieder gab, nicht mehr gefragt war.

Und später? Hat man ihn da nicht durch den Fleischwolf einer Psychoanalyse gedreht, deren Tendenz die Herabwürdigung war? Der von mir an sich so geschätzte Hans Weigel, dem ich das allerdings nie verziehen habe, hat diesbezüglich in seinem Buch „Flucht vor der Größe“ einen Tiefpunkt gesetzt.

Das sollte uns übrigens an die Tatsache erinnern, dass es keine objektive Biographie gibt – jeder Autor hat seine Meinung, jeder Autor präsentiert Ihnen sein Objekt der Schilderung nach eigenem Augenmaß.

Julius Caesar ist mir in Biographien in allen Variationen zwischen Genie und Verbrecher begegnet. Und es stimmt schon, was einer der wichtigsten Forscher über Alexander den Großen angesichts der Hekatomben von Literatur seiner Kollegen festgestellt hat:
Jeder hat seinen eigenen Alexander.
Jeder hat auch seinen eigenen Grillparzer.

Über meinen Grillparzer nachdenken, einmal anders nachdenken, scheint mir der Weg, und damit bin ich jetzt schon sehr, sehr lange beschäftigt.

Mit größter Bewunderung dafür, was große Vorgänger geleistet haben – wer würde sich heute noch damit abgeben, jedes einzelne Buch in Grillparzers Bibliothek zu bibliographieren? Früher hat man es getan, das Verzeichnis findet sich in einer alten Broschüre über das Grillparzer-Zimmer, herausgegeben von Karl Glossy, ohne Jahr, ein kostbares Stück meiner privaten Grillparzer-Bibliothek.

Oder das Gesamtregister der 16bändigen Grillparzer-Ausgabe von Stefan Hock und Richard Smekal: Wie viel Arbeit hat man sich da gemacht, Orte, Menschen und Fakten aus Grillparzers Leben als Register so aufzuarbeiten, dass man gezielt suchen und finden kann!

Ganz zu schweigen von der Arbeit, die August Sauer leistete, als er unter dem Titel „Grillparzers Gespräche“ alles sammelte, was von Zeitgenossen als „O-Ton“, wie wir heute sagen würden, hinterlassen wurde.

Von dem Anmerkungsapparat der Historisch-kritischen Ausgabe will ich in Ehrfurcht gar nichts sagen, da ist jedes Fitzelchen an Dokumenten angeführt.

Und es hat, als Grillparzer noch etwas in diesem Land gegolten hat, zahlreiche große Ausstellungen über ihn gegeben, deren Kataloge Fundgruben dafür sind, was an Grillparzer-„Hardware“ vorhanden ist, um auch hier den modernen Ausdruck zu verwenden…

Und dann komme ich, sehe mir vieles an, das mir in die Hände kommt, durchaus – ich gestehe das – mit einem Gefühl kindlicher Beglückung.

Und weil ich Theaterwissenschaftlerin bin und es mit meinem alten Lehrer Prof. Kindermann halte, der gerne Goethe zitierte: „Das Theater bleibt immer eine der wichtigsten Angelegenheiten“, habe ich mich besonders bei den Theaterzetteln der Uraufführungen umgesehen, die oft in verschiedenen Publikationen bildlich dargestellt sind.

Nur – wo bleibt die „Ahnfrau“? Das erste aufgeführte Stück, der erste Riesenerfolg des jungen Dramatikers mit, wir würden schon sagen, einem schönen Schauerdrama, damals im Theater an der Wien?
Damals, das war der 31. Jänner 1817.
Kein Theaterzettel weit und breit.

Nun haben so viele Herrschaften wissenschaftlich so fabelhaft akribisch gearbeitet und das vorhandene Material zusammen getragen, dass ich die Sache eigentlich auf sich beruhen lassen könnte, aber das wäre unwürdig, wenn man sich mit einer Biographie befasst.

Ich beginne in der Theatersammlung, wo man besonders nett ist, alles durchwühlt, was man von dieser Zeit aus dem Theater an der Wien besitzt: nichts.
Wenn schon nicht die Premiere, so doch eine Folgevorstellung der „Ahnfrau“?
Auch das nicht.

Ich versuche es bei der Wien Bibliothek im Rathaus: besonders nett, leider nichts! Man schickt mir aber einen Bericht der Theaterzeitung, der ist kostbar.

Ich versuche es im Wien Museum bei meiner Nichte Elke Wikidal, die dort arbeitet: keine Frage, dass sie ganz lang und gewissenhaft sucht. Aber – nichts.

Warum ich das so ausführlich erzähle? Weil ich ziemlich sicher bin, dass alles, was man aus Grillparzers Zeit noch finden konnte, gefunden ist. Das Material liegt vor.

Und jetzt? Es noch einmal umwälzen?
Natürlich, das ist unvermeidlich.
Aber – neu nachdenken ist das Motto.

Dass man grundsätzlich besser zu den Originalquellen geht als zur Sekundärliteratur, ist klar.
Dass man diese drehen und wenden muss,
dass nichts unbefragt und ungeprüft „for granted“ hingenommen werden kann, ebenso.
Schon gar nicht, was ein Dichter im Tagebuch und in autobiographischen Aufzeichnungen geschrieben hat.
Da muss man bekanntlich besonders vorsichtig sein.

Das Nachdenken bezieht sich auf Dinge, denen meiner Meinung nach in dieser Lebensgeschichte von Franz Grillparzer zu wenig Beachtung geschenkt wurde – und wohlgemerkt, die Lebensgeschichte möchte ich neu befragen und erzählen.

Man neigt dazu, diesem „Beamten“ ein weitgehend ereignisloses, gewissermaßen auch temperamentloses, langweilig dahinfließendes Leben zuzuschreiben. Es passt zum Klischee des „grantigen Hofrats“, zum ehescheuen Junggesellen, zum braven Untertan.

Hat man sich, wenn man diesen Klischees ins Netz geht, mit vielen, bei genauer Betrachtung erschreckenden Details dieses Lebens befasst?

Denken wir einmal die persönlichen Tragödien seiner frühen Jahre.

Hat man sich wirklich schon ausreichend gefragt, wie ein Mann von 26 Jahren darauf reagiert, dass sein jüngerer Bruder Selbstmord begeht?

Und, viel, viel schlimmer noch, eineinhalb Jahre später, Grillparzers ist 28, mit der Sappho Burgtheaterdichter, da findet er seine Mutter erhängt in der Wohnung.

Viel wurde über die Verdrängung gesprochen, dass er diesen Tod nie kommuniziert hat, dass er in seiner Selbstbiographie so beschönigend darüber hinwegschrieb, dass man, wüsste man es nicht, den Selbstmord nicht wahr genommen hätte.

Aber man muss sich diese Situation in ihrer ganzen Schärfe vergegenwärtigen – ein noch junger Mann, der sein Leben lang mit dieser Mutter zusammen gelebt hat, auf engstem Raum und in engster Kommunikation, nicht nur durch die gemeinsame Liebe zur Musik und zum vierhändigen Klavierspiel, sondern auch in seiner Funktion als der Mann, der nach dem Tod des Gatten und Vaters  ihr Leben bestimmte, der die Verantwortung für sie trug – und sie bringt sich um, gerade zehn Monate, nachdem der Sohn das Höchste erreicht hat, was man als Dramatiker in Wien, in Österreich erreichen konnte, eine erfolgreiche Uraufführung am k.k. Hofburgtheater?

Er wollte es uns nicht sagen, was er fühlte, als er ins Zimmer trat und vor der Leiche seiner Mutter stand –  aber wir müssen uns nur vorstellen, mit welch namenlosem Entsetzen jeder einzelne Mensch auf eine solche Situation reagieren würde, müsste er sie selbst erleben. Bilder, die man nie aus dem Kopf bekommt, die vermutlich lebenslang nachwirken.

Und doch, Grillparzer musste die seelische Labilität seiner Mutter besser gekannt haben als jeder andere, er hat sie täglich erlebt, täglich damit gelebt?

Könnte am Ende auch ein Hauch Erleichterung im Schmerz gewesen sein? Und die damit verbundene Scham über die eigenen, gemischten Gefühle?

Sollten wir nicht ein bisschen mehr darüber nachdenken?

Auch darüber, dass dieser Franz Grillparzer, 1791 geboren, in einer Welt ununterbrochener Kriege aufgewachsen ist?

Napoleonische Kriege nennen wir sie heute, sie begannen ein Jahr nach seiner Geburt, sie endeten 1815, als er 24 Jahre alt war! Eine ganze, lange Jugend in Kriegszeiten, die Unterbrechungen waren kürzer als die Kampfhandlungen allerorten.

Zweimal war Wien von den Franzosen besetzt, 1809 zog es den 18jährigen Grillparzer,
„mit Haß im Herzen“, aber „mit magischer Gewalt“,
wie er in seiner Selbstbiographie schreibt, nach Schönbrunn, um den Usurpator in lebendiger Gestalt zu sehen. Und siehe da, da war er, dieser Napoleon,
„Er bezauberte mich wie die Schlange den Vogel…“
Der junge Grillparzer hat wohl gespürt, dass er in diesem kleinen Mann, der vielleicht sogar ein wenig lächerlich aussah, ein lebendes Stück Weltgeschichte vor sich sah?

Fragen wir uns doch auch einmal, wie sich der 35jährige, im Grunde wohl bestallte Beamte Herr Grillparzer (dessen „König Ottokar“ erst im Jahr davor im Burgtheater uraufgeführt worden war!) fühlte, als es am 19. April 1826 an seine Tür klopfte und drei Polizisten davor standen.

Er weiß ja nun sehr gut, dass er in einem Polizeistaat lebt, aber dieser trifft doch nicht die braven Bürger wie ihn? Von diesen drei Polizisten nun verhaftet zu werden, streng verhört und schließlich „nur“ unter Hausarrest gestellt, weil man vermutet, die schwadronierende Literatentruppe in der „Ludlamshöhle“ plane staatsgefährdende Aktivitäten, was natürlich lächerlich ist – nein, es ist kein Spaß.

Man lebt ihn scheinbar beschaulichen, aber im Untergrund unruhigen Zeiten, und, wie man sieht, es kann jeden treffen. Ins Gefängnis wie Nestroy, der sich immer wieder mit der Zensur anlegte und hinter Gittern fuchsteufelswild wurde, kam Grillparzer nicht. Aber fuchsteufelswild war auch er angesichts der österreichischen Zustände.

Und apropos unruhige Zeiten: War das Jahr 1848 in Wien wirklich so gemütlich?

Wenn Grillparzer für seine Erinnerungen an das Revolutionsjahr 1848 auch getadelt wurde, zurecht vielleicht, wenn er es „die lustigste Revolution“ nannte, so soll nicht vergessen werden, dass Graf Latour doch am Laternenpfahl hing und echt und nicht lustig tot war, und dass ein marodierender Mob sich auf die Suche nach Grillparzer machte, um ihn für ein Gedicht auf Radetzky zur Verantwortung zu ziehen. Es waren die Schwestern Fröhlich, die ihn schnell aus der Schusslinie nach Baden schafften.

Tatsache bleibt also, dass es im scheinbar so friedlich und ereignislos hinfließenden Leben Grillparzers doch auch seelisch wie körperlich lebensbedrohende Situationen von größter Dramatik gab… Und Messenhauser, ein Dichterkollege, wurde ganz echt hingerichtet. Wie fühlt man sich da?

Es gab Ereignisse, die „kleiner“ anmuten, aber mich zum Nachdenken bringen, wobei mir immer bewusst ist, dass Grillparzer nie ein reicher Mann war, im Gegenteil, lange Jahre seines Lebens sehr arm, und für seinen Lebensunterhalt arbeiten musste, während seine reiche Sonnleithner-Verwandtschaft wohl keinerlei Sorgen hatte.

Wie war das damals, als er 1812 – man muss sich immer fragen, wie alt jemand ist, er war damals 21 Jahre – in den Dienst des Grafen von Seilern trat, in der klassischen Stellung, die sich arme, gebildete junge Herren suchten, nämlich als Hauslehrer von meist des Lernens unlustigen reichen Aristokratensöhnen.

Damals nahm die Familie Grillparzer im Sommer auf ihr Landgut in Mähren mit.

Dort wurde er krank. Schwer krank. Ob Typhus, ob Nervenfieber, wir können es heute wohl kaum feststellen, aber es war lebensgefährlich.

Die Familie des Grafen kehrte nach Wien zurück und kümmerte sich nicht weiter um den Kranken, er war schließlich Bediensteter, und das waren Menschen zweiter Ordnung.

Grillparzer blieb dort in irgendeinem Nebengebäude des Schlosses liegen, und das Personal, das wohl nur Tschechisch sprach, versorgte ihn höchstens mit der nötigen Nahrung.

Kann man sich vorstellen, wie ein phantasievoller junger Mann sich in Fieber und Schmerzen gottverlassen in seinem Krankenbett wälzt? Und dann kommt noch ein Priester, vermutlich von den tschechischen Bauern in Sorge geholt, der an ihm die Letzte Ölung vollziehen will und solcherart den kommenden Tod ankündigt… Was muss Grillparzer mit seiner so lebhaften Phantasie, seinem so wachen Intellekt aus all dem machen, was rührt es innerlich in ihm um?

Kann man über so etwas in Biographien mit wenigen Zeilen hinweggehen, mit dem Hinweise, er wurde krank, glücklicherweise dank seiner zähen Natur wieder gesund, und im Jahr darauf trat er als Praktikant in die Hofbibliothek ein…?

Wäre nicht etwas mehr Nachdenken angesagt?

Apropos Hofbibliothek: Der Ort seiner Sehnsucht, an dem er nicht bleiben durfte. Die einzig mögliche Stellung für einen Dichter, sollte man meinen.

Aber nein: Womit sich der Beamte Grillparzer den Großteil seines Berufslebens befasst hat, sind Akten, von denen wir viele in der Historisch kritischen Ausgabe finden – die Haare sträuben sich, wenn man die Agenda liest: Finanzen, Handel, Wirtschaft, Bergbau und Verkehr – alles, nur nicht Kunst und Literatur.

Immer wieder ersuchte er um einen Posten in der Hofbibliothek, immer wieder hat man ihn einem Mann, der sich schon zu Lebzeiten zum anerkannten Dichter entwickelte, verweigert.

O du mein Österreich.

Nun, über Grillparzers Frustrationen ist immer wieder geschrieben worden. Aber haben wir uns das plastisch je vorgestellt, wie er, des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr (das ist allerdings ein Schiller-Zitat), tagaus, tagein „unter Faszikeln“ saß? Hier ein Klafter Holz, dort eine Petition, Entscheidungen über Dinge, deren Trivialität unvorstellbar scheint.

Gewiss, mit den ewigen Göttern gemeinsam, hat er gedichtet, aber man muss sich doch diese Situation wirklich bewusst machen…

Und auch einen Schlenker in die Nachwelt: Sind wir doch heute, wenn man Hofkammerarchiv googelt, stolz darauf, „dass kein Geringerer als Franz Grillparzer (1791–1872) hier von 1832 bis 1856 als Direktor amtierte. Sein Arbeitszimmer im 2. Stock kann heute noch in seiner Originaleinrichtung besichtigt werden, samt Stehpult, an dem Grillparzer einen Teil seiner Dramen schrieb…“

Das ist das Haus, in dem wir uns für dieses Symposion befinden, heute Literaturmuseum und „Grillparzer-Haus“ benannt. Aber denken wir an die Akten, die er bearbeiten musste – so viel Zeit zum Dichten im Amte hatte er nun auch wieder nicht…

Es gibt viele, viele bewundernswerte Interpretationen von Grillparzers Werken, und ein so großartiger Wissenschaftler wie Heinz Politzer hat eine ganze Biographie daran aufgehängt, indem er von Werk zu Werk fortschritt.

Und selbstverständlich werden auch immer die Quellen angegeben, aus denen sich der Dichter bedient hat, wobei auffällt, dass diese Schilderung von Vorlagen und Anregungen von Buch zu Buch repetiert werden.

Also– nachdenken!

Sicher sind Quellen eine Inspiration. Und auch äußere Ereignisse, die zu Entscheidungen führen, werden berichtet – etwa dass Sappho als Opernstoff an ihn herangetragen wurde.

Aber wieso sprang er auf dieses Thema dermaßen an?

Hat man sich ausreichend gefragt, wie es möglich ist, dass ein junger Mann von 25, 26 Jahren mit so unglaublicher „Seelenkenntnis“ die Geschichte einer alternden Dichterin schreibt? Woher hat er diese Dinge gewusst?

Das erinnert mich an eine wunderbare Biographie über Georg Büchner, wo der Autor nichts als gegeben hingenommen hat, nicht die Werke des Dichters als „eben entstanden“  berichtete, sondern Überlegungen anstellte, wie ein junger Mann, der mit 23 Jahren gestorben ist – ich wiederhole: Georg Büchner ist mit 23 Jahren gestorben! -, imstande war, „Woyzeck“, „Dantons Tod“, „Leonce und Lena“ und „Lenz“ zu schreiben? Jedes einzelne ein Kopendium von Wissen und Lebenserfahrung, jedes einzelne katapultierte Büchner in die Weltliteratur. Wie war das möglich?

Man wundert sich nicht genug.

Man fragt vielleicht nicht genug nach.

Sappho also. Grillparzer behandelte das klassische, auch im täglichen Leben aufzufindende Dreiecksproblem, im „Rosenkavalier“ steht es ganz ähnlich, die alte Frau verliert den jungen Mann an das junge Mädchen.

Aber wenn wir sehen, mit welch stupendem Verständnis ein Mittzwanziger hier die Emotionen einer älteren Frau behandelt, die noch einmal an die Liebe glauben möchte, dann hilft uns keine „Quelle“: Dann müssen wir uns fragen, woher kommt das, woher wusste er das?

Und auch: Warum interessierte ihn das?

Ich glaube fest an den biographischen Hintergrund künstlerischen Schaffens, zumal bei Schriftstellern.

Bei Arthur Schnitzler hatte ich es leicht, da lässt sich der Bezug zur Wirklichkeit bis in Details feststellen.

Ferdinand Raimund holte den Rappelkopf aus sich selbst, und wenn Johann Nestroy auch mit seiner Fließbandproduktion von Stücken viel zu beschäftigt war, um hier autobiographisch zu agieren, so wissen wir doch, dass alle skeptischen und liberalen Erkenntnisse in seinen Stücken ganz tief aus ihm selbst kamen.

Es ist nachzudenken, Stück für Stück, warum sich Grillparzer für seine Stoffe entschied, es ist zu fragen, wie alt er jeweils war, wie die Welt um ihn aussah. Und was er schreibend von sich selbst preisgab. Und mit welchem Schamgefühl er im Theater saß, um seine eigenen Werke anzusehen. ..

Über andere Details ist nachzudenken – ich persönlich wundere mich meinerseits, wenn viele seiner Biographen sich wundern, dass er bei seinem Weimar-Besuch kein zweites Mal zu Goethe ging, obwohl er eingeladen war. Ist das nicht mühelos zu erklären für einen Mann, der mit höchster Empfindlichkeit gerade die Peinlichkeit von Situationen empfand und sich diesen eher entzog als aussetzte?

Wir wissen doch – das tritt der Österreicher hin vor jeden, denkt sich seinen Teil und lässt die anderen reden. Ist das nicht schlicht und einfach Selbstschutz? Nicht zuletzt, um den blutigen Blessuren der eigenen Seele zu entgehen?

Was, denke ich manchmal, würde er über all die Versuche seiner Biographen denken…Unser indiskretes Wühlen, unser  Sticheln in seinen Befindlichkeiten?

Er müsste wohl darauf beharren, was er einmal im Tagebuch schrieb – „wie, um nicht immerfort verletzt zu werden, endlich kein Mittel übrig bleibt, als sich unempfindlich zu machen…“

Würden wir ihn verletzen, wenn wir ihm zu nahe kommen? Auch das ist zu überlegen.

Immer, wenn ich im Wien Museum bin, und oft auch nur, wenn ich vorbeigehe und mir eine Viertelstunde nehme – dann begebe ich mich in den zweiten Stock und besuche das „Grillparzer“-Zimmer.

Eigentlich war es seine ganze letzte Wohnung, wie sie Kathi Fröhlich der Stadt Wien überlassen hat und wie man diese in Zeiten, als man Dichter noch geachtet hat, als Ort des Gedenkens zu bewahren versprach.

Und so ist es geschehen, und man kann hineingehen, durch das Vorzimmer, durch das er täglich mehrfach gegangen sein muss, dann links in den Raum mit den Bücherkästen. Und dann kann man – zwar nicht wirklich eintreten, aber sich dann über eine Schranke doch so weit wie möglich in das nicht sehr große Zimmer hineinlehnen, umschauen, Atmosphäre mitnehmen.

Und sich klarmachen, dass Grillparzer in diesem Zimmer die letzten 23 Jahre seines Lebens verbracht hat.

Er war 58 Jahre als, als er am  27. April 1849 in die Spiegelgasse Nr.1007 einzog, zweite Stiege, vierter Stock, als Mieter von Fräulein Anna Fröhlich, die mit ihren Schwestern Katharina und Josephine im anderen Teil der Wohnung lebte… und er starb hier am 21. Jänner 1872, eine knappe Woche nach seinem 81. Geburtstag.

Ein dunkler Raum mit Schreibtisch und kleinem Flügel, Bett und Sitzecke. Oft dargestellt, denn der alte Hofrat war schon sehr berühmt, auch wenn er seine neuen Stücke, die aus der Schublade, nicht mehr spielen ließ. Nicht wesentlich größer als eine Zelle, selbst gewählte Zuflucht, allerdings in idealen logistischen Verhältnissen – die Schwestern Fröhlich, die sich diskret zurückhielten, wenn der Hofrat Ruhe wollte, aber immer da waren, wenn sie gebraucht wurden, natürlich auch mit ihrem Personal für die Bedürfnisse von Wäsche, Aufräumen und was ein alter Hofrat noch so benötigt, der offenbar täglich seine vier Stockwerke hinab und wieder hinauf gestiegen ist, um im nahe gelegenen Matschakerhof zu essen, woran noch heute eine Gedenktafel mit seinem Antlitz als Relief erinnert…

Und fragen wir uns doch einmal, was das für ein Mensch war, für den in solch engem äußeren Rahmen, in dieser scheinbaren Düsternis, die vielleicht auch eine schützende „Höhle“ bedeutete, ein Habsburger Kaiser, eine böhmische Fürstin und eine schöne spanische Jüdin seine Gefährten waren???

Das sind jetzt nur wenige Beispiele dafür, wo mir neues Nachdenken über Grillparzer als Menschen und auch als Künstler angebracht wäre, Fragen, die wir heute stellen, wenn wir uns für einen Menschen interessieren.

Biographische Neugierde an jemandem, der Besonderes geleistet hat.

Wir heute fragen nach Geld, nach Vorlieben, nach Religion, nach Beziehungen, wir fragen so lange, bis wir ein rundes Bild erhalten, das natürlich auch nicht das definitive ist.

Die nächste Generation wird wieder fragen und es nach anderen Gesichtspunkten tun, die ihr wichtig sind.

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Am Ende möchte ich Ihnen noch von einem Buch erzählen, das ich auch immer schreiben wollte – und weiß gar nicht, warum ich es nicht getan habe.

Es hätte „Toni, Kathi und Marie“ heißen sollen,

und Sie ahnen wahrscheinlich, wer die Damen sind, um die es gehen würde.

Antonie Wagner, die aufopfernde Geliebte des geschiedenen, wahrlich über die Maßen schwierigen  Ferdinand Raimund, der sie nicht heiraten konnte und die doch bis zum Ende an seiner Seite blieb…

Katharina Fröhlich, die so genannte „ewige Braut“ Franz Grillparzers, die, als er sie dann doch noch heiraten wollte, diesen Antrag als zu spät und als Beleidigung abwies und doch bis zum Ende an seiner Seite blieb…

Und Marie Weiler, die Gefährtin des geschiedenen, als Mann so unzuverlässigen, als Menschen so noblen Johann Nestroy, der sie nicht heiraten konnte und die bis zum Ende an seiner Seite blieb…

Vielleicht könnte man ein solches Buch doch „Die wilden Ehen des Biedermeier“ nennen, als geradezu charakteristisches Verhaltensmuster dieser zwiespältigen Zeit.

Aber warum es mir gegangen wäre, war letztlich die synoptische Betrachtung dieser drei Männer – Raimund, Grillparzer, Nestroy – , die zur gleichen Zeit in ein- und derselben Stadt lebten und, mit Ausnahme weniger freundschaftlicher Begegnungen von Grillparzer und Raimund, nicht miteinander verkehrten.

Bei Nestroy waren es wohl Berührungsängste: Er spielte die Rollen des einen – er muss wohl ein toller Rappelkopf gewesen sein, die Rolle auch für sein grimmiges Gemüt ideal -, er parodierte die Stücke des anderen – so schrieb er einen „Dummen Diener seines Herrn“ und prügelt in seinen „Theatergeschichten“ die „Sappho“ fast zu Tode -, aber er hielt sich von den „Kollegen“ fern.

Und die drei Frauen, die in demselben Wien wohnten? Was wussten sie von einander? Wie verschränkten sich ihre Schicksale – bzw. taten es nicht in einer Stadt, die damals so groß nicht war, schon gar nicht in Theaterwelten, wo sie alle zuhause waren?

Ja, meine Damen und Herren, dafür dass ich mich eigentlich immer vor allem für Frauenschicksale interessiert habe, habe ich dann doch den größten Teil meiner Arbeitskraft den Männern zugewendet… Und vielleicht schaffe ich es noch, den heutigen Blick auf Leben, Schaffen, Zeit und Umwelt des Franz Grillparzer zu werfen.

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WIEN/ Gesellschaft für Musiktheater: EIN SONNTAG MIT MICHAEL HELTAU

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  1. 4. Matinee der Gesellschaft für Musiktheater: Ein Sonntag mit MICHAEL HELTAU

Viele Besucher und vor allem –Innen waren in die Türkenstraße gekommen zu einem Künstlergespräch, initiiert vom Präsidenten der Wiener Volksopernfreunde, Dr. Oliver  Thomandl, rund um Publikumsliebling KS Michael Heltau. Zunächst jedoch drehte sich, vom Präsidenten der Gesellschaft für Musiktheater, Prof. Franz Eugen Dostal,  höchst eigenhändig aufgelegt, das Jacques Brel-Chanson Karussel in exzellenter deutscher Übersetzung von Werner Schneyder auf dem Plattenteller. „… Und hernach dann in der Garderobe / hab ich längst den sich‘ren Beweis, /  dass ich selbst das Karussell bin / weil ich mich ewig drehe im Kreis!“ lautet das Ende dieses Songs ohne Ende.  Und dann kommt er herein, dieser Jüngling, der den Achtziger schon um einiges hinter sich gelassen hat, voller Schwung wie ein Frühlingstag. Der Begrüßungsbeifall will gar kein Ende nehmen, bis er ihn wie ein Dirigent mit einer Handbewegung abbremst.

„Großer Magier“ nennen ihn die Medien, und wenn man das Leporello der Rollen und Sparten aufblättert, die er in seinem Bühnenleben schon gespielt hat, so stellt er sich als wahrer Don Giovanni des Theaters und in weiterem Sinne auch des Films heraus. Der Kammerschauspieler-Titel, die Kainz-Medaille und das obligate Portrait im Vestibül des Burgtheaters  haben ihn  längst erreicht, obwohl er seit 17 Jahren keine Rollen mehr spielt, sondern nur noch seine Soloabende mit den Wiener Theatermusikern gibt, die alle seine Stückeln vom französischen Chanson, speziell von Jacques Brel, über Operettenmedleys, Schlager der 20er Jahre bis zum Wienerlied mitspielen und abrunden. Das ist für ihn interessant, weil man nicht weiß, wie es ausgeht: „Da häng‘ ich selbst meinen Kopf in die Schlinge und schau, wie ich ihn wieder herauszieh“, meint er lachend.

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Jacques Brels Grab befindet sich auf dem Friedhof von Atuona auf der Marchesa-Insel Hiva Oa, Französisch-Polynesien, in unmittelbarer Nachbarschaft von Paul Gauguin. © Szynkariuk

Wie das alles begonnen hat? Ja mei – der Inbegriff des Wiener Schauspielers mit Kultformat kommt gleich auf seinen bayrischen Migrationshintergrund zu sprechen. Geboren in Ingolstadt, wo sein Großvater Leibkoch des Prinzen Luitpold von Bayern war und somit dem Militärstatus angehörte, wuchs er in ländlichem Umfeld wohlbehütet am unteren Ende einer begüterten Großfamilie von vier Generationen auf.  Besonders der Mutter, die bei seiner Geburt erst 18 Jahre alt war, fühlte er sich eng verbunden. Sie verstand es, ihn anzuleiten und zu fördern, ohne ihm Entscheidungen aufzuzwingen, so dass er seine Begabung und seine Berufung selbst entdecken und entwickeln konnte.

Sein  theatralisches Urerlebnis hatte er als Fünfjähriger bei einem Bunten Abend mit Musikclowns und Coupletsängern in einem Gasthof  in Kemating bei Seewalchen im Salzkammergut, wohin ihn seine Eltern, die  inzwischen dorthin verzogen waren, mitgenommen hatten. Da trat u.a. ein Zauberer-Ehepaar auf  in bunten Kostümen, aus denen sie Tauben auffliegen ließen, die die Phantasie des Knaben im wahrsten Wortsinn beflügelten. Noch heute, meinte er, hätte keines der vielen Bühnenerlebnisse, die er im Laufe seines  Lebens gehabt hätte, dieses eine übertroffen. Da passte natürlich das Lied Bringt mir die Clowns, wo es, und da denkt man ein bisschen an Shakespeare, heißt: „… Jetzt steh‘ ich da vor leerem Haus / ich bin ein Narr …“   

Sein Debut gab er wenig später im Rahmen eines Kindertheaters, das eine Wienerin in Sommerfrische namens Rosel Waldmann initiierte. Schauspielerin mit Leib und Seele, konnte sie auch im Urlaub das Theaterspielen nicht lassen und studierte im Gasthof  Stallinger mit Kindern aus der Umgebung und mit Unterstützung von Pater Corbinian ein Theaterstück ein. Nachdem das Biwerl, wie ihn sein Großvater nannte, beim täglichen Milchholen dort vorüberkam und große Augen machte, wurde der entzückende Bub hereingeholt und erhielt, da das Stück ja schon fertig war, zunächst eine stumme Rolle als Hofmarschall Zitronat in grellgelbem Kostüm. Dennoch fiel der Kennerin seine schöne Sprechstimme auf, und es wurde eigens ein Prolog für ihn geschrieben. Nachdem ihn auch befreundete urlaubende Burgschauspieler auf der Bühne  gesehen hatten und entzückt waren, war es Käthe Dorsch, die das Talent des Buben erkannte und den Anstoß für die spätere Berufslaufbahn gab. Besondere Förderer in den Jahren seiner Anfänge waren u. A.  Fred Liewehr, Leopold Rudolf, die hochverehrte Alma Seidler und Gustav Manker.

Und das ist auch seine Botschaft: Nichts im Leben ist wichtiger als die Begegnung mit den richtigen Menschen; die Sympathie ist alles. Und da schließt er das Publikum, bestehend aus lauter Talenten, die mit ihrer Eintrittskarte ein Stück von ihm selbst gekauft haben, durchaus mit ein. Die unvergleichliche Interpretation als Higgins aus My Fair Lady mit Ich bin gewöhnt an ihr Gesicht in einem Live-Mitschnitt der Volksoper rief nicht nur beim Publikum, sondern auch bei Michael Heltau selbst wegen ihrer Unmittelbarkeit und der Qualität der Wiedergabe große Begeisterung hervor. Damit konnte sich Dr. Thomandl diskret in Erinnerung bringen, denn das Gespräch war auf weite Strecken der Monolog eines großen Verwandlungskünstlers, der dennoch in all‘ seinen Rollen er selbst blieb.                                                                                                                     

Ursula Szynkariuk          

 

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AM HEUMARKT : WENN INVESTOREN PLANEN – statt das den Stadtplanern zu überlassen!

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Der Koloss vom Heumarkt oder Kultur- und Architekturprobleme von Rot-Grün-Wien

Von Meinhard RÜDENAUER

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Heumarkt neu! Modell der „Planungsgruppe“ als ärgerlicher Beitrag zu Wiens Stadtplanung

Schwemmboden …. es ist ein Schwemmboden! Auf wassergesättigtem Boden soll der neue Koloss vom Heumarkt in wohl unerwünschte Höhe wachsen. Dieses Monstergebäude, welches hier direkt neben dem Stadtpark zwischen Heumarkt und Lothringerstraße nach Wunsch von einer Investorengruppe mit der Unterstützung von Bürgermeister Michael Häupl und der noch mehr umstrittenen Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou lang schon geplant wird, hätte man vor drei Jahrzehnten mit dem damaligen Modewort ‚Emmentalerhaus‘ abgewertet – glatte Fassaden mit Fensterlöchern. Ein grimmiger Wiener Architekturkrieg unter Unesco-Observation tobt nun und lässt es innerhalb der Parteien so richtig krachen.

Doch halt, ist die so offen ausgetragene Ästhetik-Streitfrage der heikelste Punkt dieses Bereicherungsprojektes für bestimmte Gruppierungen? Nicht der ziemlich phantasielose Emmentaler-Stil oder unnötig angestrebte Höhenluft, sondern der Boden, der Baugrund bereitet das größte Problem. Ja, der Schwemmboden! Techniker haben begründet, dass hier ein Bau von derartiger Masse und Gewicht wohl möglich ist, doch nur mit immensen Beton- und Geldspritzen zur erreichen wäre. Dass es aber trotzdem in Zukunft immer wieder zu neuen Verschiebungen im Erdreich kommen wird müssen. Denn der Wienfluss und die U-Bahn (diese wurde mit dem Wissen über die schwierige Lage errichtet) liegen darunter. Das Gewicht des Baukolosses drückt ebenso wie die unter der ganzen Eisfläche aufgefächerte gewaltige Rohranlage – die Kühlanlage des Eislaufvereines beliefert sowohl das Konzerthaus wie das alte Hotel im Winter mit warmer, im Sommer mit kalter Luft. Doch Rohrleitungen können brechen, wenn sie auf verschiedenen Gründen lagern, und sie werden immer wieder zu erneuern sein.

Dazu, nicht vergessen: Die Erweiterungsbauten in die Tiefes für die neuen Säle von Konzerthaus und Musikverein, Traditionsbauten ebenfalls neben dem Flussverlauf, haben der so heiklen Tektonik wegen für beide Kulturinstitutionen durch zusätzliche unerwartete Baukosten immense Geldverluste gebracht. Die Konzerthausgesellschaft leidet daran nach wie vor. Und noch …. die Lothringerstraße wurde vor erst keinen zwei Jahrzehnten mit riesigem Aufwand umgebaut. Jetzt schon wieder – zeichnet so etwas eine kluge Stadtregierung aus? Also, liebes Rot-Grün-Wien, trotz eventueller finanzieller Begünstigungen dürfte es keine tolle Idee sein, diese vermeidbare Beschädigung für weit schweifende Blicke über Wien. Toll vielleicht für die momentanen finanziellen Gewinner, nicht aber für Wiens Steuerzahler, wenn in einigen Jahren Gestaltungsfehler zu bezahlen sein werden.

Meinhard Rüdenauer

Wien, im Mai 2017

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Apropos: Meyer, Föttinger, Struppeck (29.09.2017)

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zzzz  Apropos  Renate ipse 300

Orban, Putin, Erdogan…
Meyer, Föttinger, Struppeck….

An sich gehöre ich noch zur der Generation, die Privates privat hält. Aber hier geht es um Grundsätzliches. Ich weiß natürlich, dass niemandem etwas abgehen wird, wenn ich nicht in den „Tanz der Vampire“ gehe und nicht darüber schreibe. Aber warum tue ich das nicht? Weil die Pressedame der Vereinigten Bühnen mir die schon zugesagte Premierenkarte weggenommen hat, mit der Versicherung, man werde mich nie wieder einladen.

Und warum das? Weil in meiner Kritik zu „I am from Austria“ gestanden ist: Man sollte es doch endlich als Nepotismus verdammen, wenn die Chefs sich selbst besetzen, um ein Zubrot zu kassieren, zumal, wenn Qualität und Erfolg so beharrlich ausbleibt.

Ich gebe zu, das ist nicht freundlich, hatte aber mit der fast körperlichen Übelkeit zu tun, die diese geschmacklose Torte, mitverfasst von Intendant Christian Struppeck, mir bereitet hat. Nun, er schrieb mir: Auch kassiere ich kein „Zubrot“; ich beziehe für meine Tätigkeit als Autor keine Tantiemen, sondern stelle diese ganz im Gegenteil dem Theater zur Verfügung.

Gut, das muss ich ihm glauben (muss nicht, aber will), in diesem Fall ist er ja nur Co-Autor. Die Bücher für „Der Besuch der alten Dame“ und „Schikaneder“ hat er voll und ganz geschrieben. Auch das wurde, wie die Rechtsabteilung der Vereinigten Bühnen erklärt, nicht extra honoriert. Das bedeutet, dass sich die Vereinigten Bühnen einen Autor / Intendanten engagiert haben und solcherart bei dessen Doppeltätigkeit noch sparen.

Tatsache bleibt ja wohl, dass Dominique Meyer und Karin Bergmann die einzigen Direktoren Wiens sind, die sich ausschließlich darum kümmern, ihre Häuser zu führen. Die anderen Herrschaften inszenieren da zumindest, wenn sie nicht auch noch als Darsteller auf der Bühne stehen. Alles im Rahmen der Intendanten-Verträge oder „Zubrot“? Und wo beginnt die „Nepotismus“-Betrachtung ? (Laut Wikipedia: …bezeichnet eine übermäßige Vorteilsbeschaffung durch bzw. für Familienangehörige, Familienmitglieder bzw. Verwandte (oder auch Freunde) und, wie ich hinzufügen will, für sich selbst, wenn man die Macht dazu hat).

Wobei ich die fraglichen Herren auf derselben Ebene erleben dufte wie Herrn Struppeck. Als ich Volksopern-Direktor Robert Meyer darauf aufmerksam machte, dass er absolut nicht konsequent sein „Nur auf Deutsch“ durchzöge und ihn an Adenauers „Was gebe ich auf mein Geschwätz von gestern“ erinnerte, entzog auch er mir die Pressekarten. Als Josefstadt-Direktor Herbert Föttinger eine Rolle in Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenuntergang“ mit einem Schwarzafrikaner besetzte, obwohl er ein Dutzend „weißer“ Schauspieler dafür hatte, und ich das vermerkte, schimpfte er mich „Rassistin“ und entzog mir auch die Pressekarten.

Das heißt, wir sollen jetzt blind und blöd sein und nichts mehr sehen, hören und sagen wie die bekannten drei Affen? Theater ist nicht naturgegeben so multikulti-vielgesichtig wie die Oper, wo man ohne die Sänger aller Länder, Kulturen und Hautfarben gar nicht mehr existieren könnte. Im Theater hat es sich hier weder um eine notwendige noch um eine sinnvolle Besetzung gehandelt, sondern einzig um ein Signal des Direktors, wie politisch korrekt (sprich: Wir sind die Guten!) man sei. Wagt man auf die Billigkeit solchen Vorgehens aufmerksam zu machen (das ja auch seine politisch positiven Folgen hat), wird abgestraft. Dass eine andere Meinung gesagt werden darf – nein, das ist nicht mehr drin.

Bitte, mich nicht falsch zu verstehen: Ich bin weder wehleidig noch beleidigt (nicht einmal geschmeichelt nach dem Motto „Viel Feind, viel Ehr’“), und wahrscheinlich würde ich auch zurückschlagen, wenn man mich attackiert. Aber ich bestehe darauf, dass ich in allen Fällen einfach auf fragliche Sachverhalte hingewiesen habe – und das sind unsere Theaterleute überhaupt nicht mehr gewöhnt. Dialektisches Denken (Dinge von beiden Seiten zu betrachten, oder vielleicht von noch ein paar möglichen mehr) ist völlig verloren gegangen. Es gibt nur noch eine Wahrheit, so verlogen die auch sein mag, und wird diese nicht bedient, schreit man auf und schreitet zu Sanktionen. Alles darf sein, solange es unter dem Teppich bleibt und niemand die Frechheit hat, das  auch laut zu sagen (schreiben)…

In meinem Fall hat man mir Pressekarten gestrichen, sei’s drum. In anderen Fällen verlieren die Betroffenen viel Geld (nicht, dass mir Wolfgang Fellner leid täte, aber übel bleibt die Sache schon, nicht nur auf seiner Seite) – oder sie landen im Gefängnis wie bei unseren östlichen Nachbarn. Diese Macht haben Theaterdirektoren noch nicht. Vermutlich hätten sie sie gerne, um unerwünschte Meinungen aus dem Weg zu schaffen. Hoch lebe die Demokratie, die Meinungsfreiheit, die Meinungsvielfalt und alle unsere schönen Errungenschaften.

Renate Wagner

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POLIT-SATIRE: DORNRÖSCHEN UND DIE DREI TAPFEREN ZWERGLEIN

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POLITSATIRE: DORNRÖSCHEN UND DIE DREI TAPFEREN ZWERGLEIN

von Meinhard Rüdenauer

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Es ging die Sage im Land vom schönen schlafenden Dornröschen, denn so ward die Königstochter benannt, welche nach dem Tode ihres Vaters, des gutherzigen Königs, die Regentschaft übernehmen hätte sollen. Doch vom bösen Magier Grasserl von Schuesselrohe ist Dornröschen durch mehrere Stiche einer mit einer ordentlichen Dosis Glyphosat gefüllten Spritze, oder mit welch modischer Droge auch immer, infiziert und in einen tiefen Schlaf versenkt worden. Denn Schuesselrohe, einer der heimischen Lügenbarone, wollte alle Macht an sich reißen. Wollte verhindern, dass Dornröschen nun die Thronfolge antreten würde, um segensreich auf die Bedürfnisse und Nöte der Menschen im Lande einzugehen. Doch das gemeine Volk, aufgewirbelt und getragen von reinsten Empathien für die schöne Prinzessin, konnte bewirken, dass Dornröchen nach einigen Jahren nun aus ihrem Tiefschlaf erwachen wird.

In diesen Tagen entschlossen sich auch die sieben Zwerge, die in den hohen Bergen nach Erz hackten, ebenso aber auch alle Alpenwanderer freundlichst bedienten, sich auf den Weg zu machen, um nach neuem Lebensglück, nach einer feineren Lebenskultur zu suchen. Kultur, das ist das Wort gewesen, welches sie immer wieder aus fremden Munde gehört hatten – aber nicht so genau einzuschätzen wussten, was dies auch bedeuten könnte.

Den weitesten Weg vermochten die drei mutigsten, tapfersten der sieben kleinen Alpenländler zurückzulegen. Es waren deren gewaltigen Wortführer, nämlich Goldkurzchen, Silberkernchen und Rumpelstolz. Als sich die drei Zwerglein auf staubiger Landstraße der großen Stadt näherten, merkten sie aus der Ferne eine gewaltige Dornenhecke, welche die königliche Burg umhüllte.

Doch als sie dieses rauhe Gestrüpp zu durchdringen versuchten, waren es lauter große, schöne Blumen, und die taten sich von selbst auseinander. Denn die Stunde des Erwachens war für Dornröschen gekommen.

Und wie sie vor dem noch sanft schlummernden Dornröschen standen, wurden sie von deren Schönheit völlig überwältigt.
„Diese Schönheit, diese Königstochter, die muss ich besitzen“, Goldkurzchen dachte so. Silberkernchen dachte so. Rumpelstolz ebenso: „Ja, wenn ich sie in meinem Besitz bekommen würde, hätte ich alle Macht im Lande!“ Alle drei hüpften gleichzeitig auf das königliche Bettchen zu, um ihr auf den Mund zu küssen. Dornröschen schlug ihre Äuglein auf, wich mit ihrem Köpfchen zurück, hielt beide Hände vor ihr Gesicht und war völlig überrascht: „Nun, ihr Zwerge, wartet mal, ihr seid mir aber eigenartige Geschöpfe …. was versteckt ihr hinter eurem so aufdringlich freundlichem Lächeln?“ Goldkurzchen, Silberkernchen und Rumpelstolz waren sich  nun bewusst, dass sie sich von ihrer allerbesten Seite zeigen müssten. Doch wie sie sich nun gegenseitig in die Augen sahen, merkten sie, dass bei jedem von ihnen ein Glitzern begann, welches das Gieren nach der ganzen Macht im Lande verspüren ließ. Vorbei ist es nun mit der Zwergerlgemeinschaft gewesen.

Der eine versuchte den anderen schlecht zu  machen. Gestritten, gepoltert, verleumdet wurde. Dornröschen hatte ihre Zweifel, war sich schnell bewusst, dass hier so einiges aus dem rechten Lot geraten ist. Jedoch …. eine neuer Prinz muss her, um das Wirken und Treiben auf den Wiesen, Feldern und in den Bergen nicht so völlig verfallen zu lassen. Sie verspürte, dass ihr eine Macht gegeben war. Gegeben durch die Reinheit ihres Herzens. Vor allem aber durch die in blutigen Kämpfen bestätigte Historie ihres edlen Geschlechtes.

Sie sprang aus dem Bettchen, huschte eiligst in die Bibliothek, um in den alten Büchern auf den verstaubten Regalen hilfesuchend  nach den passenden wissenden Ratgebern zu stöbern. Da, Machiavellis ‘Il Principe‘, das politische Ringen um Macht? Nathan der Weise und seine Ringparabel? Eines der Königsdramen von Shakespeare? Doch nicht. Tolle Wahrheiten so – Jack Londons erdnahes ‚Wolfsblut‘ – oder so …. der erdenferne ‚Kleine Prinz‘?  Oder hier, ‚Das Kapital‘? Oder, hm, gar ….  Hitlers ‚Mein Kampf‘? Nein! Dornröschen riss sich zusammen, atmete aber gleich darauf erleichtert auf: „Halt, das klingt lustig, klingt bekannt!“ Kein Buch, sondern eine dicke Partitur hat sie entdeckt: „Die Fledermaus“. Schnell unter den Arm genommen, schnell zu den verunsichert herumstehenden drei kleinen Gesellen geeilt. Das Zwergentrio jubelte auf, Jauchzer ausstoßend: Fledermaus, Fledermaus, die Rache der Fledermaus! Bekannt, bekannt, beliebt!

Schon waren die Rollen verteilt: Goldkurzchen schlüpfte sofort in das herrschaftliche Gewand des Prinzen Orlofsky, stimmte mit knabenhafter Stimme “´s  ist mal bei mir so Sitte“ an und versprach, eine wunderbare neue Kultur zu fördern. Für Silberkernchen war klar, dass ihm die Rolle des unverwüstlichen Eisenstein zustand. Doch nein, nicht Eisenstein, Silberstein nannt er sich nun und zeigt sich von seiner honorigsten Seite. Rumpelstolz rief lautstark aus: „Der Gefängniswärter Frosch, der bin ich!“ Keck nahm er sich gleich eines nicht ihm zugedachten einschmeichelnden Liedchens an: „Spiel ich die Unschuld vom Lande.“

Zufrieden waren nun alle. Sie tollten herum, sangen, trugen überhebliche Sprüche vor und von der Musik des Johann Strauss –wahrlich ein Walzerkönig  – getragen und beseelt, sind sie menschlich gewachsen, sind größer und größer und strammer geworden. Alle drei. Sind bis zur stattlichen Statur eines gestandenen Führers, eines Menschenführers gewachsen. Dornröschen war es nun zufrieden, Wuchs und Glied stimmten nun. Kurz dachte sie nach. Denn klar war, dass sie sich diesem zuwenden müsste, welcher der Ehrenhafteste von ihnen sein könnte. Hat sie gefehlt? Lockend sprach sie: „Goldkurzchen, Du wirst nun mein lieber Gemahl, und dann bist du auch der neue König!“

Und da wurde die Hochzeit von Dornröschen mit dem nun so wunderbar strahlendem Goldkurzchen mit aller Pracht gefeiert. Doch es ist keine Märchenhochzeit geworden. Denn Silberkernchen kam es in den Sinn, gar nicht so ausgefallen: „Negative Campaigning …. das muss doch etwas für sich haben?“ Vergessend, dass Zwerge zu Zwerge stehen müssen. Auch wenn sie so glücklich sind, im Glück baden zu dürfen. Ganz leise zuerst, dann immer lauter und lauter werdend sang er, gar garstig – aus der Rache der Fledermaus ist nun die Rache des Silberstein geworden. Somit ist es so geschehen, wie es immer geschieht und auch immer wieder geschehen wird: Es war einmal, es ging die Sage im Land ….

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DER KULTURJOURNALIST, als Berichterstatter und Kritiker

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Feuilleton: Der Kulturjournalist als Berichterstatter und Kritiker

Ein Beitrag des „MERKERS“ Peter Heuberger aus Basel

Jede Inszenierung sowohl im Musiktheater als auch auf der Sprechbühne muss als Gesamtwerk betrachtet werden.

Wollt Ihr nach Regeln messen,
was nicht nach Eurer Regeln Lauf,
der eignen Spur vergessen,
sucht davon erst die Regeln auf!
(Die Meistersinger von Nürnberg, Akt 1, Szene 3, Hans Sachs)

Dies sei unsere Richt‘ und Schnur! Aber ohne Tabulatur!

Was bedeutet dies für uns Kulturjournalisten? Jeder Berichterstatter, jede Berichterstatterin muss bei der Arbeit darauf achten, das Gesehene und Gehörte als Gesamtheit zu beurteilen. Es reicht nicht die Gesangskunst eines Sängers, einer Sängerin als wunderbar zu beschreiben, wenn sich die schauspielerische Leistung in einigen Gesten und Bewegungen erschöpft. Gestik, Mimik, Körpersprache die Interaktion zwischen den ProtagonistInnen muss beurteilt werden. Die Personenführung der Regie ist zu beachten. Die Ideen des Regisseurs der Regisseurin müssen im Rahmen des heutigen sozio-ökonomischen Umfeldes betrachtet werden. Die politischen Verhältnisse sollten Eingang in die Inszenierung gefunden haben. Eine sechzig Jahre alte Inszenierung ist wohl im historischen Kontext des Theaters interessant und oft auch ästhetisch sehenswert. Für die Weiterentwicklung des Theaters als moderne Kunstform sind alte Inszenierungen absolut ungeeignet. Diese Produktionen waren zu ihrer Zeit modern, heute wirken diese nur noch verstaubt, auch wenn junge InterpretInnen in den vorgegebenen Rollen auf der Bühne stehen.

Dazu Barbara Mundel, bis Saison 2016/2017 Intendantin Konzerttheater Freiburg:

>Glücklicherweise muss ich kein Repertoire mit traditionellen, alten Inszenierungen pflegen!<

Was ist das Problem der Theater heute? Noch einmal Barbara Mundel:

>Das Problem für uns heute ist die „Erwartungslosigkeit“ der Besucher. Natürlich gibt es immer noch Theaterliebhaber, welche erwarten, dass AIDA in Ägypten und „THE MERCHANT OF VENICE“ in Venedig spielt. Aber es gibt wesentlich mehr Leute, für welche die Reibungen, die Unterschiede zum Original gar keine Aufregung, Enttäuschung mehr bedeuten. Dazu kommt, dass sich durch die zunehmende Migration die Frage stellt, welches Theater für ein Publikum mit einem komplett anderem kulturellen Hintergrund zu machen ist.<

Was wollen RegisseurInnen, was ist, und war, die Aufgabe des Theaters? Georges Delnon, in einem Interview in Basel:

>Regisseure wollen nicht unbedingt den Text inszenieren, sondern übernehmen die Strukturen oder die Personen. Ich habe den Eindruck, dass es im Schauspiel darum geht, den Zeitgeist zu bedienen, neuen Zeitgeist zu provozieren. Dies funktioniert beim Sprechtheater, bei der Oper ist dies nicht so einfach zu bewerkstelligen<

Der Katalanische Regisseur Calixto Bieito drückt sich folgendermassen aus:

>Ich bin ein Verfechter des reinen Textes, wie er vom Autor verfasst worden ist! Das heisst für mich, dass ich zum Beispiel Richard III so inszeniere wie es vom Text, von einer anerkannten Übersetzung vorgegeben wird, und zwar ohne wesentliche Kürzungen oder Veränderungen. Natürlich interpretiere ich, als Regisseur, auf meine Weise die Personenführung, die Inszenierung. Ich werde zwar als Skandal-Regisseur wahrgenommen und meine Regieführung gibt immer wieder zu Diskussionen Anlass, eigentlich aber bin ich sehr altmodisch, humanistisch. Ich bin ein grosser Verehrer von Shakespeares Texten. Zu bedenken dabei ist, dass in den Originalschriften Interpunktionen weitgehend fehlen und aus diesem Grunde unterschiedlich interpretiert werden können.
Sänger und Sängerinnen im Musiktheater sprechen mit Ihrer Kunst nicht nur den Intellekt sondern auch die Emotionen der ZuschauerInnen, ZuhörerInnen an. Musik als Transportmittel ist viel universeller als die reine Sprache.
Schauspieler und Schauspielerinnen müssen den emotionalen Zugang zu ihrem Publikum erarbeiten,
da nur Sprache, Text primär vorwiegend den Intellekt, das Hirn anspricht. Sie werden nicht von Musik unterstützt. Um den die Gefühle anzusprechen, braucht es Mimik, Gestik, Sprachmelodie, Schauspiel-kunst. Sie müssen sozusagen die „Musik“ selbst erfinden, komponieren. Man kann sagen, dass der
Text im Kopf und die Musik im Bauch aufgenommen werden. Das heisst aber nicht, dass Schauspiel-
kunst nicht auch beim Musiktheater gefordert wird.Das Rampen stehen und Absingen von Arien ist altmodisch und findet im heutigen Musiktheater keinen Platz mehr.

Kultur, also auch Theater ist eine Staatsaufgabe, eine Bildungsaufgabe. Das heisst im weitesten Sinne, dass die Institution Theater keine kommerzielle Angelegenheit sein darf. Eine Eigenwirtschaftlichkeit im Sinne von Industrie und Handel darf nicht gefordert werden, auch wenn populistische Politik dies sehr oft fordert.
Stephan Märki, Intendant Konzert Theater Bern drückt dies aus wie folgt:

>Ein Vierspartenhaus muss entsprechend mit einer eigenen Identität auftreten und lebendig spürbar sein. Dieser Anspruch führt immer wieder zu vielfältigen Diskussionen, aber eine solche Institution muss eben für seine Daseinsberechtigung einstehen. Ich kämpfe gerne, das ist mir lieber, als ein Haus von meinem Vorgänger zu übernehmen und mehr oder weniger auf die gleiche Weise weiterzuführen.

Konzert und Theater als öffentliche Institutionen sind nicht dazu da und sind auch nicht dazu geeignet, im kommerziellen Sinn zu wirtschaften. Kultur muss, wie Bildung und Strassen, für jedermann erschwinglich sein.

Der Eigenfinanzierungsgrad, der wesentlich über die Eintrittsgelder erwirtschaftet wird, ist ein wichtiger Gradmesser dafür, ob man mit dem künstlerischen Programm auch die Interessen des Publikums trifft.<

Genau diese „eigene Identität“ muss von den jeweiligen Intendanzen angestrebt und von uns, als Berichterstatter und Berichterstatterinnen, unterstützt und verstärkt werden. Und dies kann nur geschehen, wenn wir, wenn auch mit kritischen Augen und Ohren, unsere, ja unsere Theater positiv darstellen und dies auch dem Publikum näherbringen. Wesentlich ist auch immer die Aufforderung an die Zuschauerinnen und Zuschauer: Seid bereit, euch auf Neues einzulassen, seid bereit, euch hie und da einen Spiegel vorhalten zulassen. Nicht dass es uns/euch so ergeht wie E.T.A. Hoffmann im Giulietta-Akt von Offenbachs„LES CONTESD’HOFFMANN“ wo er sein Spiegelbild verschenkt, seine Möglichkeit, sich selbst kritisch zu betrachten!
> Zu spät wird ihm bewusst, dass er mit dem Verlust seines Spiegelbilds auch sich selbst, seine Seele und sein ganzes Wesen verloren hat.<(© Programmheft Konzerttheater Freiburg)

Die Medien dürfen sich nicht als Beckmesser aufspielen. Sie haben die Aufgabe zu „Merkern“, Bericht zu erstatten und die Kultur zu unterstützen, ihr zu helfen sich weiter zu entwickeln. Ein Zitat Stephan Märkis zum Abschluss:

> Sprechtheater zu inszenieren ist heute eine der schwierigsten Arbeiten im Theater. Es ist eine grosse Aufgabe, den zeitgenössischen Zugriff zu finden, der mit seiner Poesie, seiner Verführung, aber auch mit seiner Störkraft in die Nähe der gesellschaftlichen Prozesse, der gesellschaftlichen Veränderungen kommt. Das heisst zum Beispiel, die Kunst Stanislawskis und Brechts in der angestrebten Ästhetik zu integrieren.<

Dies gilt für alle Theaterformen. Vergessen wir nie: Auch die ältesten Bühnen-Werke waren einmal modern und sind auf Ablehnung und Widerstand gestossen, weil sie dem Publikum den Spiegel vorgehalten haben.

Peter Heuberger – Merker in Basel

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Erstes Gespräch mit Bogdan Roščić und Philippe Jordan im TV

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Copyright: „Servus TV“

Gespräch von Ioan Holender mit Bogdan Roščić und Philippe Jordan auf „Servus-TV“

Heinrich Schramm-Schiessl analysiert:

„Na ja, da war viel heisse Luft dabei. In den ersten zwei Dritteln hörte man eigentlich nur schon Bekanntes aus dem Leben der beiden Herren. Erst im letzten Drittel ging es tatsächlich um die Staatsoper, ohne allerdings wirklich Neues zu hören, was ich allerdings auch nicht wirklich erwartet habe. Eigentlich hörte man nur die Gemeinplätze, die noch jeder neue Direktor vor Amtsantritt von sich gegeben hat. Was Staatsoper 4.0 bedeutet, hat sich mir immer noch nicht erschlossen. Das Interessanteste und Bemerkenswerteste war für mich die Aussage, dass beide die Staatsoper zu 100% als geeignwet für die Aufführung von Mozart-Opern erachten. Ich habe das ja nie angezweifelt, aber in den letzten Jahren waren ja viele Dirigenten und sonstige (selbsternannte) Fachleute der Ansicht, dass das nicht der Fall sei…“

Ergänzend Anton Cupak zu diesem Gespräch:

„Beide Herren kamen recht sympathisch rüber und bezüglich Bogdan Roscic wurde mit der immer noch in zunehmend kleineren Kreisen herrschenden Meinung, dass sich da einer aus der Unterhaltungsbranche in die Heiligen Hallen verirrt hat, gründlich aufgeräumt. Dem Mann ist Kompetenz in keinem Fall abzuschreiben, dazu bedurfte es gar nicht der „Bestätigung“ von Künstlern aus der Opernbranche, denen er in deren Anfangszeit mit seiner Tonträger-Firma Wege geebnet hat.

Holender erwähnte das Gerücht, dass Bogdan Roscic vor einigen Jahren das Angebot, den ORF als Generalintendant zu übernehmen abgelehnt habe – mit dem Hinweis, dass ihn in Österreich nur die Staatsoper interessieren würde.

Das ist – vorausgesetzt es stimmt – ein ganz starkes Bekenntnis, denn der ORF bietet doch viel mehr Gestaltungsmöglichkeit und wohl auch Einfluss. Roscic hat aber nun, was er wollte und die Wiener Opernfreunde dürfen ihn mit Spannung und doch einer gewissen Vorfreude erwarten.“

Peter Skorepa kommentiert zu diesem Gespräch:

Das jus primae noctis eines vormittäglichen Gespräches im TV mit dem designierten Staatsoperndirektor wurde von dessen zukünftigem Vorvorgänger Joan Holender vorgenommen, mit der üblichen gelassenen Noblesse und im Servus TV, wobei die treffendste Umschreibung der ausgeschriebenen Funktion des Direktors der Wiener Staatsoper als „einer fast staatstragenden Rolle“ in diesem Lande von dem deutschen und offensichtlich auch Wien-kundigen Bariton Christian Gerhaher in einer Seiteneinspielung auch so genannt wurde.

Wenn auch wenig Konkretes und zum Teil auch schon bekannt gewordenes in dem Gespräch zu Tage kam, dann war doch ein wichtiges Detail von und über Bogdan Roščić zu erfahren, nämlich sein Bekenntnis zum „Gemeinschaftserlebnis Oper, das nur wahr auf einer Bühne stattfindet“. Das scheint insofern wichtig, als der ministerielle Auftrag, die Oper 4.0 zu generieren, leicht zu elektronisch unterstützten und Musikantenstadel artigen Auswüchsen an Massenunterhaltung neigen könnte. Hier zu unterscheiden zwischen musikalischer Qualität vor Ort, also einem theatralischem Erlebnis und andererseits aber geforderter Massenverbreitung, das wird viel Fingerspitzengefühl verlangen.

Man sollte sich auf gute Arbeit auch der kommenden Direktion Bogdan Roščić einstellen können, beschwört er doch mit Adornos Worten „Die unvergleichliche Autorität des Genius Loci“, weiters versichert uns in einer Seiteneinspielung Franz Welser-Möst, dass Bogdan Roščić „für die Wiener Staatsoper brenne“.

Und Philippe Jordan verweist auf die hervorragenden Möglichkeiten, in diesem Hause auch Mozart spielen zu können, „das A&O der Musik“, wie Roščić es nennt.

Das Thema Opernstudio, von Roščić als Stichwort genannt, wurde nicht weiter angeschnitten. Wir hatten ja schon eines in Wien, das in der Ära Holender entschlief, dann aber wieder auf der Agenda des jetzigen Direktors Dominique Meyer stand und beschlussfähig vorbereitet aber die finanziellen Hürden nicht übersprang. Ob Roščić mehr Glück damit hat?

Renate Wagner meint schließlich dazu:

Üblicherweise dienen die Gespräche, die Ioan Holender für Servus TV führt, ihm selbst: Sie beweisen ihm und den anderen, dass er noch kein „Has been“ ist, der unbeachtet am Altenteil sitzt. Diesmal allerdings hat er Wiens Opernfreunde mit einer wichtigen Information versorgt. Er hat uns gezeigt, wer die beiden Herren sind, die in ziemlich genau zwei Jahren und neun Monaten die „Herrschaft“ in der Wiener Staatsoper antreten werden.

Dass Bogdan Roscic und Philippe Jordan gute Figur gemacht haben, ist keine Frage, und das in vieler Hinsicht. Sie waren zwar nicht völlig entspannt, dazu sind sie zu gescheit, sie wussten schon, was dieser Auftritt bedeutet. Aber keinesfalls haben sie sich aufgeplustert und eine Show abgezogen, im Gegenteil, sie waren konzentriert im Hier und Jetzt, und hätte Roscic nicht unbedingt Adorno zitieren müssen (und klarstellen, dass er eine journalistische „Edelfeder“ wurde, weil er den Grips hatte, einen Wittgenstein-Artikel zu kritisieren – das ist schon ein bisschen hoch gesprungen), sie wären ganz ohne Peinlichkeit ausgekommen.

Kurz, die beiden Herren sind jemand, sie müssen niemandem vormachen, wer sie sind, ja, dass sie überhaupt jemand sind – was man ja von so vielen Künstlern (und Politikern und und und) so oft „vorgetanzt“ bekommt. Ängste, dass sie einmal in Größenwahn verfallen und nur noch sich selbst umkreisen, statt ihren Job zu tun, haben sie keine ausgelöst.

Positiv fiel auf, dass die beiden sich offenbar wirklich gut verstehen. Bedenkt man, wie sich der vorige GMD hinausgemobbt fühlte, weil man nie mit ihm redete, ihn nie zu Entscheidungen heranzog, ihn Dinge aus der Zeitung erfahren ließ, dann wird das bei Roscic / Jordan vermutlich nicht passieren. Die reden miteinander und liegen offenbar auf einer Wellenlänge. Man kann nichts über die so wichtigen menschlichen Qualitäten sagen, wenn man jemanden eine knappe Stunde im Fernsehen gesehen hat (es gibt ja auch sehr gute Schauspieler, die einem vorspielen können, was sie wollen), aber irgendwie fühlt man sich nicht verunsichert: Der Schweizer, der Österreicher, die ihre Jobs können und lieben, haben offenbar nur das Beste vor.

Wobei sie auch geschickt genug waren, sich jeden Seitenhieb auf die gegenwärtige Direktion zu schenken. Vielleicht denken die beiden wie Martin Kusej, der im Hinblick auf seine künftige Burgtheaterdirektion sagte: „Ich schütte da sicher mal die Hälfte oder zwei Drittel von diesem Suppentopf aus und koche mal eine neue Suppe auf“, aber sie waren wirklich nicht so geschmacklos, es auszusprechen. Sie werden sicherlich einiges ändern – knapp drei Jahre davor Details zu nennen, wäre unverantwortlicher Wahnsinn. Außerdem wollen wir ja alle – die Journalisten und die Opernbesucher, wir Opernfreunde, die alles besser wissen, man muss uns nur fragen – Raum zur Spekulation…

Sie werden wohl nicht mit einem so nötigen neuen „Ring“ beginnen, wenn Philippe Jordan gerade noch einen in Paris beendet (dass man amikal auf seine bestehenden Verpflichtungen Rücksicht nimmt, sollte zwar selbstverständlich sein, aber man kennt üble Fälle). Dass beide an Mozart in der Staatsoper glauben, hätte einen Hattrick der Da Ponte-Opern erhoffen lassen, aber da wird ja noch rasch die Muti-Tochter davor eine „Cosi“ einschieben, also geht es nicht so einfach. Die Zeiten, wo man eben mit „Fidelio“ eröffnete, sind wohl vorbei. Hoffentlich schreibt schon jemand in der Größenordnung von Ades (wobei natürlich auch die komponierenden Österreicher gefragt sind) an einer schönen, neuen großen Oper zur Eröffnung… Aber das Problem kann man getrost den beiden Herren überlassen, dafür werden sie ja bezahlt. Sie kennen die Ansprüche, sie kennen die Erwartungen.

Kein Wort über die Inszenierungen, die selbstverständlich ein großes Thema sein werden in einer Welt, wo heutzutage schon Operndirektoren von Regisseuren verlangen (!), den Schluß von „Carmen“ zu ändern (!!), weil das Publikum am Ende nicht nach der Ermordung einer Frau klatschen soll (!!!), da ist es doch viel besser, sie nimmt eine Pistole und erschießt Don Jose (!!!!), denn nach der Ermordung eines Mannes darf man offenbar klatschen (!!!!!) – da muss sehr, sehr viel Überlegungsarbeit geleistet werden. Es ist anzunehmen, dass Roscic/ Jordan sich das nicht leicht machen werden … und mit den Zähnen knirschen, dass Herheim für sie nicht zu haben ist.

So nebenbei kam ein „Opernstudio“ auf, niemand hat danach gefragt, Roscic stellte es selbst in den Raum. Danke. Nicht, dass es unbedingt die Aufgabe eines großen Opernhauses wäre – Philippe Jordan selbst ist das Beispiel dafür, wie viel man in Ulm lernen kam, Beczala und Gould denken dankbar zurück, was Linz sie gelehrt hat, die „Ausbildungsstätten“ der kleinen und mittleren Häuser sind ja vorhanden. Aber natürlich hat es auch einen Vorteil, in einem großen Haus aufzuwachsen und mitzuwachsen – Tara Erraught hat mit begeisterter Dankbarkeit erzählt, wie großartig es war, sich in München als Opernschülerin überall frei bewegen zu können, bei Proben der anderen mitzulernen, den großen Kollegen genau zuzusehen und langsam in Minirollen die kleinen Schritte zu machen. Nachwuchspflege ist eine Sache für sich. Die neuen Herren werden das anders machen, als es derzeit der Fall ist.

Dass Ioan Holender ihnen schlußendlich in den Mund legte, das „Live Ereignis“ über alles zu stellen (no na), um die Ängste auszuräumen, die Herren dächten nur noch in Tonträgern und DVD-Aufzeichnungen (was ist grundsätzlich schlecht daran?), wird hoffentlich nicht die LiveStreams beschneiden. Und dass es eine gute Sache ist, gute Aufführungen zu dokumentieren und sie auch in die Welt zu schicken… darüber braucht wohl nicht diskutiert werden. Die guten Aufführungen zu liefern, ist Aufgabe der Direktion.

Nehmt alles nur in allem: Die beiden Herren kamen viel versprechend herüber.

 

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Apropos: FRAUEN, WEHRT EUCH!

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Frauen, wehrt Euch!

Cristiano Chiarot, der Intendant des Florentiner Theaters, hat meine Phantasie vor ungeheure Herausforderungen gestellt. Seine dezidierte Anweisung an den (anfangs selbst erschrockenen) Regisseur nach einer „feministischen“ Umdeutung des „Carmen“-Finales eröffnet ungeahnte Möglichkeiten für die Opernliteratur. Wenn Carmen nun Don José erschießen darf, weil sich die Frauen solche Behandlung einfach nicht mehr gefallen lassen können, dann gilt das ja auch für andere Ladies der Opernliteratur?

Also: Gilda erdolcht den Herzog und Desdemona erwürgt Othello – das ist leicht. Aida könnte mit Radames (wir sind ja nicht grundsätzlich männerfeindlich) aus ihrer Totenkammer schleichen und Amneris dort einsperren (es gibt ja auch böse Frauen, die bestraft gehören). Azucena freilich wird sich schon schwerer dabei tun, den Grafen Luna ins Feuer zu schleudern… Und wem kann Violetta ihren Schwindsucht-Tod anlasten? Natürlich dem fortgesetzten Missbrauch durch die gesamte Männerwelt. Nur – wie macht man das jetzt?

Ähnliche Probleme hat Mimi (soll Rudolf sich an ihrer Stelle zu Tode husten?), und was Tosca betrifft, die hat den Scarpia ja schon umgebracht, da ist gendertechnisch nicht mehr viel zu holen. Aber Butterfly! Die kann den Dolch, statt ihn gegen sich selbst zu richten, nehmen und Pinkterton dafür zerstückeln, geschieht ihm Recht, dem Ungetreuen!

Bei Wagner wird es entschieden schwieriger. Senta, Elsa, Elisabeth – was fängt man mit ihnen an? Wie rächt man sich an ohnedies schon gänzlich gebrochenen Männern? Und Isolde und Brünnhilde begraben ja ihre Ehegesponse, Kundry wird der Erlösung teilhaftig… nein, das ist nicht so einfach vom feministischen Standpunkt. Aber Evchen! Die kann nicht nur Sachs in den Orkus schicken (ein Mann, der „Was deutsch und echt“ singt, pfui, weg mit ihm!), sondern auch den schönen Stolzing, wer braucht den schon, und sich mit Beckmesser am Arm dem Volk zeigen: Es leben die Außenseiter!

Und bei Mozart? Da fährt der Weiber-Benützer und Weiber-Vernichter Don Giovanni ohnedies in die Hölle – aber hoppla, wie wäre es denn, ihn am Leben zu lassen? Dann kann er nämlich zum Schluß-Sextett hereinschleichen und Zerlina (oder Anna oder Elvira oder alle drei?) in den Hintern kneifen. Die kreischen dann auf, möglichst mit ein paar Koloraturen, und jodeln „#metoo“! Dann wäre die Sache doch noch feministisch auf den Punkt gebracht…

Ich bezweifle gar nicht, dass wir der einen oder anderen Möglichkeit irgendwann auf einer Bühne begegnen werden. Und dass sich Journalistenkollegen finden, die dergleichen schönschreiben. Ist ja auch nicht schwer. Könnte ich auch. Jederzeit. Ich will nur nicht.

Ja, Frauen wehrt Euch! Vor allem gegen den Unsinn, der da in Eurem Namen unternommen wird.

Renate Wagner

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Apropos: Nur nicht aus Ärger weinen…

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Nur nicht aus Ärger weinen…

Auch wenn man gewohnt ist, im allgemeinen ziemlich unverblümt seine Meinung zu sagen (ist der Ruf einmal ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert), gibt es Fälle von Selbstzensur, wo man sich zurückhält. Weil man sich nicht wohl dabei fühlt, große Künstler, die man selbst als solche anerkennt und bewundert, unverblümt zu kritisieren. Andererseits, wenn es die Sache will…

Immerhin war es eine Erleichterung, sich nicht ganz allein mit seiner Meinung fühlen. „Nun sagt mal, hat Euch das Konzert wirklich gefallen? Ich kanns nicht glauben“, fragt Lohengrin im „Merker“-Forum und spricht mir aus der Seele. Die Rede ist natürlich vom Silvesterkonzert aus Dresden, das am 31. am Spätnachmittag im ZDF meine erste Wahl war (so dass ich zu den Berlinern auf arte erst verspätet einsteigen konnte – auch nicht die wahre Rücksichtnahme der Programmierer überall). Erstens halte ich viel von guter Filmmusik, und zweitens erschien mir die Idee, einmal mit „100 Jahre UFA“ ein paar Schätze zu heben, einfallsreich. Und dazu „unsere“ Elisabeth Kulman, dazu Angela Denoke und Daniel Behle, ganz zu schweigen von Christian Thielemann am Pult „seiner“ Staatskapelle Dresden… da gab es nur Erwartungen und keine Befürchtungen.

Das machte die Sache ja noch schlimmer. Als Elisabeth Kulman auftrat – herrlich, der freche Lockenkopf, die opulente weiße Federboa-Robe, die reine Diven-Verarschung, wirklich schön. Doch hat sie die Zarah-Leander-Schlager gesungen? Sie hat sie gesäuselt und gehaucht, und das mit einer exzessiven Affektation, die dann nichts mehr mit Ironie zu tun hatte, sondern mit einem destruktiven „Stil“, der das Original unterwandern sollte. Mit dem Effekt, dass von den Qualitäten dieser Musik nichts mehr übrig blieb,

Ist schon klar, dass man die Leander nicht imitieren muss (obwohl das manche können und mit großen Effekt getan haben, wie auch die Piaf-Interpretinnen oder Sona MacDonald als Lotte Lenya, besser als das Original). Aber Schlager, die auf die offensive, sinnliche Art der Leander hin geschrieben wurden, dann einfach zu ruinieren, indem man sie absichtsvoll miß-interpretiert – was soll das? Muss alles Neue auch das Richtige sein, nur damit man das Alte vermeidet?

Angela Denoke – muss man erwähnen, wie sehr man sie vor allem als Gestalterin schätzt? – war da nicht besser. Ich denke, sie wollte halt überlegen und leicht zynisch aus der Wäsche gucken, tatsächlich wirkte sie so verkrampft wie erstarrt. Daniel Behle hatte sich noch am wenigsten in ein Konzept gezwängt, aber auch er – und natürlich Thielemann – waren keine Freude. Gott, was gab es da an Musik, an sich vergnüglich, schmissig, witzig, schwungvoll. An sich. Nicht hier. Na ja, nur nicht aus Ärger weinen, es gibt im Leben nicht nur den einen Versuch…

Persönlich muss man glatt zu seinen DVDs der alten Filme zurück, um zu wissen, wie das klingen kann – wobei, bitte wohlgemerkt, ich die Dietrich für keine Meistersängerin halte und man „Ich bin von Kopf bis Fuß“ besser singen kann als sie. Das wäre doch eine Möglichkeit gewesen. Hat nicht stattgefunden.

Nun haben Christian Thielemann und Elisabeth Kulman bei uns Merker-intern und natürlich auch bei den Lesern eine große Lobby, und weil Kritik nicht sein darf, wird man mich der Vorurteile zeihen, abgesehen davon, dass ich von all dem ohnedies nichts verstehe… sonst müsste man ja nachdenken, ob der Abend wirklich so gut war, wie manche glauben machen. (Und ob Muti, der steif wie Stock vor den Philharmonikern stand, wirklich so großartig war, wie viele ihn erlebten…)

Ich möchte dazu noch betonen, wie sehr ich Frau Kulman auch für ihr Leben und ihre Entscheidungen bewundere. Man kann ja durch ihre Newsletter (es ist sehr vernünftig, den Finger am Puls der Zeit zu haben) nicht nur verfolgen, was sie tut, sondern auch, was sie denkt. Sie hat sich aus dem Opernzirkus ausgeklinkt und läuft mehr und mehr auf der Schiene der „Entertainer“ (was große Kollegen überall, Michael Heltau zum Beispiel, ja auch erfolgreich tun, um von niemandem abhängig zu sein als von sich selbst). Wenn ihre Entscheidungen – etwa Zarah Leander alternativ zu säuseln – nicht jeden überzeugen, ist das wohl ein kalkuliertes Risiko, und ihre Fans werden sie dabei ohnedies unerschütterlich begleiten.

Dass Elisabeth Kulman bald aufhören will, ist auch bemerkenswert: „Man wird mich nicht mit nassen Fetzen von der Bühne runterprügeln müssen“, sagt sie. Und sie kann sich vornehmen, mit ihren nun knapp 45 Lebensjahren nur noch ein paar Jahre aktiv als Sängerin weiterzumachen. Und dann wird ihr mit ihren vielen Interessen und sozialen Ambitionen sicher nicht langweilig werden.

Kurz, es gibt ein Leben außerhalb des Karrierezirkus. Das sollten wir, die den Stars so gespannt bei ihren Anstrengungen zusehen, von Rolle zu Rolle und von Bühne zu Bühne zu rasen, auch bedenken…

Renate Wagner

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Apropos: PRANGER? HEXENJAGD? VERNICHTUNGSFELDZUG?

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Pranger? Hexenjagd? Vernichtungsfeldzug?

Noch nie war es so leicht, einen Menschen zu ruinieren. An einem Tag steht ein Schauspieler im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, bekommt einen „Golden Globe“ als bester Hauptdarsteller (ich erwähne gleich, dass ich „The Desaster Artist“ für einen ziemlich katastrophalen Film halte, aber das steht hier nicht zur Diskussion) – am nächsten Tag sagt die New York Times eine Veranstaltung mit eben diesem James Franco ab, weil zwei Damen gegen ihn Vorwürfe sexueller Nötigung eingebracht haben. Er leugnet das, was von seinem Standpunkt aus vermutlich das einzig Richtige ist, ob er aus der Affäre unbeschädigt herauskommt, ist zu bezweifeln, „angepatzt“ (nach dem Motto „Wird schon was dran sein“ und „Kein Rauch ohne Feuer“) ist er zweifellos.

Wir haben es erlebt, seit „#metoo“ zur Weltmacht wurde: die Throne stürzen, und das mit erschütternder Schnelligkeit. Was war Kevin Spacey, wenn man seine Karriere verfolgt, für ein hoch geachteter, bewunderter Mann, abgesehen von seinen Filmen als der brillante Hauptdarsteller des „House of Cards“ im Mittelpunkt aller Hollywood-Ereignisse. Und gab es einen mehr bewunderten Dirigenten als James Levine, den Mann, dem die Met mehr verdankt als jedem anderen, den Künstler, der sich im Weltrepertoire der Oper bewegte wie ein Fisch im Wasser?

Wer hoch steht, stürzt besonders tief – zwei Männer, die ihre Homosexualität nicht nur einvernehmlich mit Partnern (und von mir aus bezahlten Strichjungen, wir sind erwachsen) ausgelebt haben, sondern offenbar ihre Stellung benützten und missbrauchten, Jugendliche zu belästigen. Wenn die Welt hier nicht mehr wegsieht oder hinter vorgehaltener Hand „pfui“ sagt, sondern zur Ächtung schreitet, die mit der Vernichtung von Persönlichkeiten und Karrieren Hand in Hand geht… im medialen Zeitalter ist das leicht geworden.

Mittlerweile aber hat man entdeckt, wie perfekt man diese Missbrauchs-Vorwürfe instrumentalisieren kann. Und wenn Catherine Deneuve und die französischen Frauen es sich mit ihrer Forderung nach der „Freiheit zu belästigen“ entschieden zu leicht machen (ist das ihr Ernst???), mit einem haben sie jedenfalls recht: Heute würden Männer „zur Kündigung gezwungen, deren einziges Vergehen es ist, ein Knie berührt oder einen Kuss erhascht zu haben“.

Ja, man sollte Vergewaltigung und Nötigung aufgrund einer Machtposition nicht mit den vielleicht handgreiflichen, aber harmlosen Folgen eines Flirts gleich setzen – wo Frauen ja dann auch noch was zu sagen haben. Im Zweifelsfall „nein“.

Die Problematik ist gänzlich außer Kontrolle geraten, man kann jeden Promi heute an den Pranger stellen und allein damit ruinieren. Dieter Wedel hat sich durch sein schlechtes Benehmen viele Feinde gemacht, „#metoo“ bietet die einfache Möglichkeit, es ihm heimzuzahlen. Kann sein, dass er es verdient –Tatsache ist jedenfalls, dass sich die Medien auf dieses „Material“ geradezu stürzen, wo sind schönere Schlagzeilen? Aber der Bürgermeister von Bad Hersfeld, dessen Festspiele Wedel leitet, sprach nicht zu Unrecht von einer „Hexenjagd“, und man kritisiert zu Recht, „dass der Betroffene trotz Unschuldsvermutung medial hingerichtet wird“. Wie immer die Sache ausgeht – und Wedel leugnet ebenso vehement wie James Franco -, unbeschädigt gehen sie nicht daraus hervor.

Als Nina Proll sich in die Diskussion einschaltete, sorgte nur ihre Popularität dafür, dass sie mit ihrem Widerspruch einigermaßen durchkam, ohne selbst Schaden zu nehmen. Die Rolle der Frau zu hinterfragen? Nein, nicht dort, wo Männer vergewaltigen, also mit der brutalen Gewalt des Stärkeren Beischlaf erzwingen. Auch nicht dort, wo Chefs (das sind ja nicht nur Filmemacher, das kommt in jeder Firma vor) die Stellung einer Angestellten davon abhängig machen, ob sie ihnen zu Willen ist. Aber, wie ein Darsteller in einer Wedel-Serie sagte: „Es gab immer genügend Damen, die an Doktor Wedels Tür gekratzt haben und sich mit ihm allein treffen wollten. Keine ist ohne einen Plan zu ihm gegangen.“

Die Besetzungscouch, wenn sie als solche von beiden Seiten wahrgenommen wurde, quasi als Austausch – das ist zwar nicht schön, aber diese Freiheit muss man den Frauen lassen. Sich hochschlafen – warum nicht, wenn Männer so blöde sind, sich dermaßen benützen zu lassen?

Denken wir doch – bitte! – immer dialektisch, betrachten wir ein Thema von zwei (oder noch von viel mehr) Seiten, bevor wir in empörtes Geheule ausbrechen. Achten wir auch auf Wertigkeiten, Äpfel sind keine Birnen, es wird von vielen unterschiedlichen Dingen gesprochen. Bedenken wir auch, dass Peter Pilz grapschte, als das noch kein Verbrechen, sondern maximal ein Kavaliersdelikt war (von der Männerwelt verständnisvoll-schmunzelnd betrachtet) und man ganze Scharen von Wirtshaus-Gästen hätte in Polizeigewahrsam führen müssen, weil jeder Kunde der Kellnerin auf den Hintern tatschte, ob sie das nun als Kompliment oder Belästigung empfand. Nicht zu allen Zeiten wurde so gedacht und gehandelt wie heute, und wer sind wir, jetzt (aus der Position: Wir sind die Guten!!! Die Moralischen!!! Die einzig Wahren und Richtigen!!!) die Vergangenheit streng zu verurteilen, möglicherweise über Jahrhunderte zurück? Denken wir auch ein bisschen historisch – dass die Zeiten sich ändern. Wenn auch selten so gewaltsam wie heute, wo wir uns gleichsam in einem rasenden Rad befinden, das sich immer schneller dreht…

Die „Hexenjagd“ ist vermutlich noch lange nicht ausgestanden, aber die Reizlatte liegt immer höher. Wenn es nicht gelingt, mindestens Obama, Prinz Charles oder Trump der Nötigung oder Vergewaltigung zu überführen, werden die Schlagzeilen schwächer, wird das Thema uninteressanter werden. Auch das ist ein Zeichen unserer wirklich schrecklichen Medienwelt. Eines steht jedenfalls fest: Böse, sehr böse Mittel werden benutzt, das Böse zu bekämpfen.

Renate Wagner

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Apropos: Schwarz, weiß, gelb, braun…

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Schwarz, weiß, gelb, braun…

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, lautet ein Grundsatz der „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, und man wünschte sich, das wäre nicht nur ein idealistisches Postulat, sondern die Realität. Wie man hingegen weiß, ist die Freiheit vieler absolut nicht gewährleistet, es gibt reale Sklaverei heutzutage, es gibt die Sklaverei, in totalitären Staaten leben zu müssen, es gibt die Sklaverei, die durch ökonomische Verhältnisse hervorgerufen wird. Und ob allen Menschen ihre Würde und ihre Rechte gegeben werden, kann angezweifelt werden.

Nun hat eine größere Anzahl brutaler Kriege die Soziologie der Welt schweren tektonischen Veränderungen unterworfen, die Welt ist durch Flüchtlingsströme auf einmal durcheinander gemixt, wir leben in einer neuen Völkerwanderung, die für jedermann schwer ist –  für jene, die wandern müssen, und für jene, die ungefragt überlaufen werden. Dabei wird niemand einem Menschen sein Menschen- und Lebensrecht absprechen, vor Bedrohung an Leib und Leben, aber auch vor der absoluten Chancenlosigkeit einer Existenz davonzulaufen.

Die neue Problematik bringt allerdings viele Schwierigkeiten mit sich, allein in der Sprachregelung. Verlangt wird, dass die „anderen“, die da kommen, nicht mehr als solche definiert werden. Oder wie sonst soll ich mir den Anruf des Pressechefs von Werk X nach dem Erscheinen meiner Kritik von „Homohalal“ erklären? Wobei es ein zwar lebhaftes, aber immer höfliches Gespräch war – und ich mir komisch vorkam, im Laufe der Argumentation erklären zu müssen, ich sei keine Rassistin (das erinnert mich so sehr an das berühmte „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“ früherer Zeiten). Sind wir so weit, dass die Tatsache, dass jemand es wagt, die Hautfarbe eines anderen Menschen nur wahrzunehmen und auch nur (wertfrei) zu erwähnen, jedermann berechtigt, ihn einen Rassisten zu nennen?

Worum ging es? Nicht um meinen Verriß an sich, der sich vor allem auf eine Inszenierung bezieht, die aus allen Beteiligten wüste Hysteriker macht, statt die Geschichte zu erzählen, die der Autor sich vorgestellt hat. Nein, es ging um den Satz: „Und eine absolut irritierende Besetzung ist die Barbara mit einer Schwarzafrikanerin (Yodit Tarikwa), denn sie müsste eigentlich eine Einheimische sein, die Said einst die rettende Ehe verweigert hat…“

Wie ich dazu käme, eine Frau mit schwarzer Hautfarbe nicht als „Einheimische“ zu betrachten, fragte man mich – und außerdem sei Frau Yodit Tarikwa ohnedies Wienerin (was der Pressechef mehrfach wiederholte). Nun, ganz stimmt das laut Internet nicht, sie ist in Addis Abeba, Äthiopien geboren, als ihre Nationalität wird „Niederlande“ angegeben, als ihre Dialektkenntnisse: „Badisch (fließend), Gross-London (fließend), Wienerisch (Grundkenntnisse)“. Aber das nur zur Klarstellung, man sollte im Eifer der Argumentation nicht gänzlich Falsches behaupten, wie hier geschehen.

Aber – es ist völlig wurscht. Wie Professor Kindermann (ja, der alte Nazi) uns schon gleich zu Beginn des Studiums der Theaterwissenschaft (das damals noch eines war und eines der umfassendsten Kulturgeschichte aller Sparten, wie man es sich nur wünschen konnte) beigebracht hat: Theater ist nicht Leben. Was einer im Leben ist und was er darstellt, hat nichts miteinander zu tun. Ein „echter Wiener“ kann auf der Bühne ein miserabler Wiener sein. Und selbst wenn Frau Yodit Tarikwa eine mit Donauwasser getaufte und gewaschene Wienerin wäre, würde das nichts ändern: Auf der Bühne bedeutet ihre schwarze Hautfarbe „Migrationshintergrund“. Die Rolle der Barbara jedoch (so verrückt der Autor sie auch angelegt hat) trägt ihre Schuld, dass sie als Österreicherin hätte einen Iraker heiraten können und ihm damit die Abschiebung ersparen. Sie hat es nicht getan. Und ich grübelte schon ein wenig, wie die Ehe mit einer anderen Migrantin den Iraker  vor den österreichischen Behörden gerettet hätte. Vielleicht ging es auch anderen Zuschauern so (falls sie im allgemeinen Krawall zum Mitdenken kamen).  Egal, welch hervorragende Schauspielerin Frau Yodit Tarikwa sein mag, in diesem Konnex hat sie einfach durch ihre Hautfarbe das falsche Signal ausgesendet. Weil auf dem Theater Dinge etwas bedeuten (im Leben nicht immer). Und das sollte man auch sagen dürfen.

Der Herr der Werk X-Presse meinte allerdings, ich sehe die Dinge falsch: Natürlich seien Menschen anderer Hautfarbe und mit zweifellos anderem Hintergrund auch Österreicher. Ich habe da offenbar etwas nicht kapiert. Alle Menschen sind gleich (kein Zweifel), und ich habe einfach nicht mehr zu sehen, dass jemand von anderswo herkommt. Bald werden sie (nachdem es ja keine „Flüchtlinge“ mehr gibt) auch das Wort „Migrationshintergrund“ verbieten. Und ich frage mich, nur als Gedankenspiel, wenn ich mich jetzt in Japan niederließe, toll Japanisch spräche, dort arbeitete – ob irgendein Japaner mich als Japanerin betrachtete?

Bei uns ist das anders. Also, ein Asiat ist kein Asiate mehr, ein Indianer (pardon: Native American, der wunderbare „rote Bruder“ des Karl May) kein Indianer, ein – ich wage das Wort nicht, also ein Mensch mit schwarzer Haut kein Mensch mit schwarzer Haut mehr. Wir werden zur Farbenblindheit gezwungen (den Mund zu halten, haben die meisten von uns ohnedies schon gelernt – sonst Shitstorm! Wie man am aktuellen Beispiel sieht). Darum werden ja auch die Othello-Darsteller nicht mehr schwarz geschminkt (als ob seine Rasse – darf man das noch sagen? – nicht ein Teil von Jagos Haß und damit sein Schicksal wäre), und erst vor kurzem gab es wieder den Streit darum, dass keiner der Sternsinger sich schwarz anmalen darf (ich bin sicher, viele haben das gern getan), obwohl Caspar oder Balthasar oder welcher immer ja ein König aus Afrika sein soll.

Ist uns eigentlich klar, was wir da tun? Sagen wir damit nicht: „Schwarz darf nicht sein“? Was bedeutet das? Wäre die logische Konsequenz nicht: Schwarz darf nicht sein, weil es schlecht ist? Merken die Menschen, die dergleichen fordern, nicht, in welch gedankliches und ideologisches Chaos sie da hineingeraten? Wir dürfen nicht mehr unterscheiden, weil automatisch impliziert wird, dass Unterscheidung Diskriminierung bedeutet. Wohin sind wir geraten, wohin führen die Unterstellungen?

Um zum Ausgangspunkt, dem Telefonat des Werk X-Pressechefs, zurück zu kehren: Es steht jedermann absolut frei, jeden Migranten, der nach Österreich kommt, sofort als Landsmann zu begrüßen und zu betrachten. Wenn ich das nicht tue, wünsche ich allerdings, nicht dafür gemaßregelt zu werden. Die Freiheit der Meinung, die ich jedermann zugestehe, verlange ich auch für mich persönlich.

Renate Wagner

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Apropos: TI GUARDA DAL GRANDE INQUISITOR! TI GUARDA! TI GUARDA!

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TI GUARDA DAL GRANDE INQUISITOR!
TI GUARDA! TI GUARDA!

Ein König ist ein König (so wie ein Met-Direktor ein Met-Direktor), der mächtigste Mann im Lande, der alleinige Entscheidungsträger, sollte man meinen. Und doch warnt König Philipp II. den Marquis Posa in der Oper „Don Carlo“: „Ti guarda dal Grande Inquisitor! Ti guarda! ti guarda!“

Es ist also immer noch jemand drüber. Damals die Kirche und die Inquisition. Heute das, was Offenbach einst als „die öffentliche Meinung“ belächelt hat? Die Medien? Die sozialen Medien? Oder Institutionen, die sich selbst erfunden und selbst ernannt haben und innerhalb kürzester Zeit so unendlich mächtig geworden sind, dass selbst Könige in vorauseilendem Gehorsam lieber Köpfe rollen lassen, als dass sie riskierten, selbst ins Geschützfeuer zu geraten?

Im konkreten Fall hat Peter Gelb, Direktor der „Met“, den 84jährigen, hoch renommierten britischen Regisseur John Copley, der die „Semiramide“ auffrischen sollte, sozusagen in Sekundenschnelle gefeuert, weil ein – für die Öffentlichkeit nicht identifiziertes – Mitglied des Chores schnell berichtet hat, Copley habe in Bezug auf den nicht bei der Probe anwesenden Ildar Abdrazakov gemeint, er würde ihn in der Rolle des Assur am liebsten nackt sehen.

Na gut, na und? Mr. Copley, bekennender Homosexueller, jahrzehntelang mit seinem Partner bis zu dessen Tod verheiratet, hat eigentlich ein Statement als Regisseur abgegeben. In unserer verrückten Welt unterstellt man ihm sofort privat Sexuelles. Peter Gelb feuerte ihn ohne Umschweife. Copley nahm das nächste Flugzeug nach England. Seine Reaktion war das, was der Met fehlte – sie war nobel, gemessen, ohne Anklage: „Just to thank you all for your generous support and loving wishes. This is a very difficult time, helped by you all. Uncle John.“

Er konnte auch tatsächlich danken, denn endlich regte sich etwas wie Widerstand gegen den Wahnsinn. Berühmte Opernsänger, die mit ihm gearbeitet haben (Dame Anne Evans, Samuel Ramey), nahmen Copleys Partei. Großbritanniens berühmter Kritiker Rupert Christiansen sagte das absolut Richtige: „Oh for f*ck’s sake, can we not grow up?“ „The world is indeed going mad“, schreibt ein anderer. „This is a disgraceful thing to happen. Jokes now forbidden“, lautet eine weitere Meinung. „This is simply nuts“, meint ein anderer. Daniel Harding erklärt: „Had to check to see it wasn’t April 1st. It simply can’t be true.“

„Gelb’s panicky over-reaction is indicative of the poisoned atmosphere at the Met in the post-Levine climate“, schreibt
http://slippedisc.com/2018/02/exclusive-why-peter-gelb-fired-uncle-john-copley/#comments
und arbeitet den Fall auf.

Das Problem hat jetzt die Queen – Copley wurde nämlich 2014 für seine Verdienste um die Oper zum Commander of the Order of the British Empire (CBE) ernannt. Was jetzt? Orden runterreißen und den alten Mann mit einem Fußtritt davonjagen? Wegen einer Bemerkung, die nichts weiter war als ein Scherz?

Und während ich mich durch den Fall durchlese, läuft unten auf der Website eine Zeile mit der neuesten Nachricht, die besagt, die Manchester Art Gallery habe ein Gemälde von John William Waterhouse (ein hoch geachteter Präraffaelit) abgehängt, weil die darin dargestellte Szene von „Hylas and the Nymphs“, wie Kuratorin Clare Gannaway sagte, ein Gemälde sei, „that presented the female body as a passive decorative art form or a femme fatale.“

Jetzt können das Kunsthistorische Museum und alle großen Museen der Welt anfangen, ihre Nackten der Weltkunst abzuhängen, denn die Grenze zwischen Kunst und lustvoller Betrachtung des „ausgebeuteten“ weiblichen Körpers wird schwer zu ziehen sein und im Auge des (lüsternen?) Betrachters liegen.

Und was kommt als nächstes? Ti guarda dal Grande Inquisitor! Ti guarda! ti guarda!

Renate Wagner

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HOMMAGE AN MARGARETHE WALLMANN – ZUR 600. TOSCA-VORSTELLUNG IN DER WALLMANN-INSZENIERUNG IN WIEN Auszüge aus dem Vortrag von Dr. Ulrike Messer-Krol (Fotocollagen Erwin Messer) am 24.1.2018 in der Galerie des Online-Merker

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HOMMAGE AN MARGARETHE WALLMANN – ZUR 600. TOSCA-VORSTELLUNG IN DER WALLMANN-INSZENIERUNG IN WIEN

Auszüge aus dem Vortrag von Dr. Ulrike Messer-Krol (Fotocollagen Erwin Messer) am 24.1.2018 in der Galerie des Online-Merker

Der gesamte Vortrag erscheint im Heft „Der neue Merker“ als Leitartikel


Dr. Ulrike Messer-Krol beim Vortrag

Es war eine für eine Frau zur damaligen Zeit unglaubliche Karriere, die zuerst in Salzburg und dann hier auf der Bühne der Wiener Staatsoper startete. Leider findet  sich wenig Literatur über sie,  die absolut lesenwerte Autobiographie „Sous le ciel de l’opéra“  nur auf französisch und italienisch.  (Neuausgabe éditions du félin, Paris 2004)
Mit genauen Angaben ist die Autorin   sehr  zurückhaltend.

Wallmann Zeichung
Margarethe Wallmann auf einer Zeichnung

…Als ich  einer französischen Freundin, die frühere Präsidentin des Wagner Verbandes in Nizza Betty Bonafet voll Stolz erzählte, dass eine Österreicherin als  erste Frau  international  erfolgreich Opern inszeniert hatte, kaufte sie mir im Shop der Opéra Garnier deren Autobiografie.  Ich war davon fasziniert und dachte, das ist ein interessantes und trotzdem einfaches Thema für einen Vortrag. Eine Zusammenfassung des Buches , die wichtigsten Kapitel mit Österreichbezug. Doch als ich mich näher damit befasste , stellte ich fest, dass so gut wie keine persönlichen Daten darin vorkamen, keine privaten Ereignisse oder gar Familiennamen. Und im Internet mußte ich entdecken, dass nicht einmal das  Geburtsjahr, aber auf gar keinem Fall der  Geburtsort sicher waren. Wenn Sie also  „geboren in Berlin“  hören , so war nicht nur der Österreich-Bezug etwas reduziert , sondern auch fast ein Jahr Recherche nötig, damit ich es zweifelsfrei feststellen kann. ..

Margarethe  kam 22. Juni 1904 zur Welt , nicht in Wien, wie sie später erzählte, sondern nach allen Unterlagen definitiv in Berlin ( Am Holsteiner Ufer 10)  als Kind einer bestens situierten jüdischen Kaufmannsfamilie . Der Vater Paul ist (1870)  in Stralsund geboren, seine Frau Selma ( 1881) stammt aus der Kaufmannsfamilie Daniel in Krefeld. Die Lederwaren-  und  die Schuhgroßhandlung , die Vater und Großvater zuerst gemeinsam führten, lag im Berliner Alexanderplatz-Viertel. In Wien hat sie mit Unterbrechungen nur von Herbst 1933 bis März 1938 gelebt. Dann in Buenos Aires, wo sie die argentinische Staatsbürgerschaft erhielt. Die österreichische  erlangte  sie erst wieder in den 80er Jahren, mit Hilfe des ihr sehr verbundenen Honorarkonsul von Monaco . Ihre dafür notwendigen  Dokumente hat sie als in den Kriegsereignissen für  verloren erklärt.  Aber da sie  davor knapp 5 Jahre mit einem Österreicher  verheiratet war, war sie damit österreichische Bundesbürgerin geworden . Vielleicht hat sich diese private Verbindung mit dem (katholischen) Chef der Wiener Philharmoniker Hugo Burghauser im Sommer 1932 bereits abgezeichnet…

Bildergebnis für margarethe Wallmann
Margarethe Wallmann und ihr Ehemann Hugo Burghauser.

Die falschen Angaben sind von Frau Wallmann beabsichtigt, sie hat sich nach dem 2. Weltkrieg als tiefgläubige Katholikin, in Wien geboren, inszeniert. Wahrscheinlich für sie eine Voraussetzung für die große in Mailand gestartete internationale Karriere.  Während des 2. Weltkrieges hat sie den Geburtsort gewechselt, diese Dokumente habe ich über die Association for Jewish Refugees  aus London bekommen, die dort ebenfalls  Ahnenforschung betreibt…

Die Vortragende referiert dann ausführlich über Margarethe Wallmann als Tänzerin. Da der gesamte Vortrag im Heft-Merker als Leitartikel erscheint, will ich es zugunsten „Magarethe Wallmann als Opernregisseurin“ aussparen. Darüber schreibt Dr. Ulrike Messer-Krol:

…Margarethe Wallmann  hat nach Kriegsende privat ein neues Leben begonnen –  deutlich gemacht durch die Änderung des Geburtsortes. Beruflich konnte sie ihre Arbeit erfolgreich fortsetzen – zunächst wieder als Choreografin vor allem an der Mailänder  Scala. 1952 wollte sie ihr früherer Chef Clemens Krauss  dort unbedingt als Regisseurin für die italienische Erstaufführung  „Die Liebe der Danae“ mit seiner Ehefrau Viorica Ursuleac . Die leitenden Herren  stimmten nur zögernd zu,  es  wurde der ganz große Erfolg – der Beginn einer  weltweiten Regiekarriere,  auch wieder bei den Salzburger Festspielen.  Dass sie fünf Sprachen fließend beherrschte, stützte ihre Autorität in der Zusammenarbeit mit den internationalen Teams und den Bühnenstars wie Maria Callas,  auch den meisten Libretti folgte sie im Original .

Eine der wichtigsten Stationen  ihrer Laufbahn war  die Uraufführung von Die Gespräche der Karmeliterinnen an der Scala, der zahlreiche weitere Inszenierungen folgten. Sie bat  Francis Poulenc  ein szenisches Oratorium  zu komponieren , er wollte für sie aber eine Oper mit religiösem Thema . Im November 1952  besuchte Frau  Wallmann eine Generalprobe im Wiener Burgtheater, damals noch im Ronacher . Gespielt wurde Die begnadete Angst von George Bernanos, als Blanche Annemarie Düringer, unter den  Schwestern auch Marisa Mell, damals noch Maria und Elfriede Ott

1931_Margarete Wallmann_ASF_PhotoKarl Ellinger_600dpi
Margarethe Wallmann in Salzburg 1931. Archiv Salzburger Festspiele, Photo Karl Ellinger.

So nahm Margarethe Wallmann entscheidend Einfluss auf Poulenc bei der Wahl des Themas der „Karmeliterinnen“

An der Wiener Staatsoper hat Margarethe Wallmann 6 Inszenierungen erabeitet:

Waechter Scarpia
Eberhard Waechter als Scarpia in einer Folgevorstellung

TOSCA – Premiere 3.4.1958 mit bisher 600 Vorstellungen

DIALOGUES DES CARMÉLITES – Premiere 14.2.1959 mit 20 Vorstellungen

MORD IN DER KATHEDRALE von Ildebrando Pizzetti – Premiere 9.3.1960 mit 5 Vorstellungen

LA FORZA DEL DESTINO – Premiere 23.9.1960 mit 84 Vorstellungen

TURANDOT – Premiere am 22.6.1961 mit 54 Vorstellungen

DON CARLO – Premiere18.3.1962 mit 84 Vorstellungen

Wallmann war auch an bedeutenden Ur- und Erstaufführungen beteiligt, darunter 1955 David von Darius Milhaud, 1955 Der feurige Engel von Sergei Prokofjew, 1957 Les Dialogues des Carmélites von Francis Poulenc, 1958 Mord im Dom von Ildebrando Pizzetti, 1962 Atlántida von Manuel de Falla und L’opéra d’Aran von Gilbert Bécaud, 1969 Die Teufel von Loudun von Krzysztof Penderecki und Andrea del Sarto von Jean-Yves Daniel-Lesur und 1974 Antoine et Cléopatre von Emmanuel Bondeville.

Margarethe Wallmann starb am 2.5.1992 in Monaco

Die abschließenden Ergänzungen stammen von Anton Cupak

 

 

apropos: EVAS RACHE UND DER PRÄSIDENTEN-RÜLPSER

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EVAS RACHE UND DER PRÄSIDENTEN-RÜLPSER

Warum gehe ich eigentlich ins Theater? Wirklich, die Politik unterhält mich viel besser. Da ist wirklich alles drin, was es an Menschlichem, Allzu Menschlichem und auch Menschenunwürdigem gibt.

Es ist mein Mann, der mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Hundert-Euro-Scheine grün sind. Dafür wirft man doch ein grünes Parteibuch ohne Bedauern weg, wenn die grünen Scheine dafür bündelweise eintrudeln. Von wem ich sie bekomme? Ach, Eva, Eva… genierst Du Dich gar nicht? Du willst Dich bei Novomatic „als gesellschaftliche Herausforderung“ mit der „verantwortungsvollen Regulation des Glücksspiels“ befassen? Für wie dumm hält man die Menschen eigentlich? Vermutlich soll mindestens so viel gespielt werden, dass die Gehälter der Führungskräfte drin sind…?

Was aber, wenn es nicht nur die blanke, verantwortungslose Geldgier war, die die einstige Grüne-Chefin dazu brachte, das Geld des Glücksspielkonzerns Novomatic einzuraffen, den sie früher bekämpft hat? Wie wär’s mit schlichter Rache?

Denn dass die jungen Grünen ihr übel mitgespielt haben, steht außer Frage – und vielleicht reicht es Eva Glawischnig nicht, dass diese Kinder ihre Strafe bekommen und die Partei im Handumdrehen wie nix zugrunde gerichtet haben. (Ich habe einen schönen Satz gelesen, weiß nicht, wo – Rom wurde nicht an einem Tag gebaut, aber Pompej in einer halben Stunden zerstört). Eine Grüne, die sich so verhält, bringt ja noch letzte grüne Säulen zum Kippen – und vielleicht ist ihr, nach allem, was man ihr angetan hat, genau danach zumute? Die Diskreditierung einer Partei durch ihre Repräsentanten?

Nun hat ja meiner Meinung nach auch Wiens Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou ihren satten Teil zum Untergang der Grünen beigetragen. Gerade sie, die wie keine anderen (sie sind ja keine schäbigen, verächtlichen, gierigen, gewissenlosen Kapitalisten, oder?) gegen das Hochhaus am Heumarkt hätte stimmen müssen, das Wien vermutlich das UNESCO „Weltkulturerbe“-Gütezeichen kosten wird, hat sich dafür stark gemacht. Wer soll einer Partei, die solches nicht nur zulässt, sondern durchsetzt, noch irgendetwas glauben? Ja, und in Wien bleibt man auch danach Vizebürgermeisterin, eh klar.

Und ich, als die in der Wolle gefärbte Feministin, denke mir: Na, Maria, Eva, wenn wir Frauen nichts Besseres zustande bringen, können wir auch den Männern die Führungspositionen belassen…

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Die machen ja nun auch genug Blödsinn. Nein, Herr Bundespräsident Van der Bellen, es ist nicht Ihre Aufgabe, bei der Neueröffnung des von Stella Rollig umgestalteten Belvederes Ihre in diesem Fall unmaßgebliche Meinung zu äußern, die da besagt, Klimts „Kuss“ stehe Ihnen „bis obenhin“. Selbst wenn das Ihre echte Meinung ist (die Sie zwar disqualifiziert, aber Meinungen stehen Ihnen frei), sollten Sie vielleicht die Würde Ihres Amtes bedenken und nicht eines der größten Kunstwerke, das je geschaffen wurde, heruntermachen.

Mal ganz abgesehen davon, dass dieser Klimt, der Ihnen so sauer aufstößt, Ihrem Staat Österreich Millionen bringt durch die Millionen Touristen, die sich in dieser Stadt drängen, um gerade dieses Gemälde zu sehen. Ganz abgesehen davon auch, dass der „Kuss“ auch noch Weltkunstschatz sein wird, wenn niemand mehr weiß, wer Herr Van der Bellen war.

Oder? Vielleicht merkt man sich ihn als „der Bundespräsident, dem der Klimt obenhin stand“? Ja, ein wahrer Kunstkenner.

Da ist es dann gar nicht mehr unterhaltend, sich mit Politik zu beschäftigen. Aber das war es ja bei Maria und Eva, denen es mit „Grün“ offenbar nicht allzu ernst ist, wie man sieht, auch nicht…

Renate Wagner

apropos: Die Oscars – drei von vieren

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apropos: Die Oscars – drei von vieren

Eigentlich wollte ich voraus spekulieren, aber was soll’s, da bekommt man nachher ja doch nur Spott und Hohn der lieben Mitwelt zu spüren. Doch zu meiner Überraschung sind bei der diesjährigen „Oscar“-Verleihung bei den besten Darstellern drei von vieren meiner Wunsch-Tipps „aufgegangen“: Auch ich hätte Gary Oldman für seine erstaunliche Darstellung des Churchill „Oscar“-bekrönt, desgleichen Frances McDormand für ihre unpathetische Wutbürgerin in „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ (ungeachtet dessen, wie großartig Meryl Streep in „Die Verlegerin“ wieder einmal war), und dass Allison Janney in ihrer Darstellung einer typischen Eislaufmutter in „I, Tonya“ die beste von allen Nominierten war – keine Frage für mich.

Als besten „Nebendarsteller“ hätte ich mir zwar den als alter Getty-Milliardär exzeptionellen Christopher Plummer in „Alles Geld der Welt“ gewünscht, aber mit Sam Rockwell als Sheriff, der eine überzeugende Wandlung erfährt („Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“) kann ich sehr gut leben – eine Klischeerolle dermaßen mit „echtem“ Leben zu erfüllen, ist „Oscar“-Gold wert.

Bester Film, beste Regie – was soll ich sagen? Für mich ist „Shape of Water – Das Flüstern des Wassers“ wirklich ein schlimmer Film, eine spekulative Kitschorgie um Gutmenschen, kaum auszuhalten. Glücklicherweise gibt es in den Kreisen meiner Filmkritiker-Kollegen den einen oder anderen, der mir zustimmt (ob sie es dann auch geschrieben haben, weiß ich nicht, es bedeutete ja, sich gegen einen starken Mainstream zu stellen). Aber immerhin – ein Kollege, den ich besonders mag und der sehr gescheit ist, war hingerissen. Was soll man sagen? Na, ich ziehe mich da ja immer gern auf meine alten Römer zurück: Quot capita, tot sententiae – so viele Köpfe, so viele Meinungen.

Ja, wer wäre denn mein Favorit gewesen? Nicht so „gute“, gut gemachte Filme wie „Die Verlegerin“ von Spielberg oder jene „Darkest Hour“, für die Gary Oldman gekrönt wurde, auch nicht „Der seidene Faden“ (wie ein Film wie dieser als „bester Film“ gedacht werden kann, wo er doch nur gute, affektiert aufgemotzte Gebrauchsware ist, verstehe ich ohnedies nicht). Ich hätte mich für „Lady Bird“ und Greta Gerwig entschieden, nicht weil es ein Frauenfilm und eine Regisseurin gewesen wären, sondern weil das eine so tief echte, in der Essenz dessen, was sie erzählen will, bewältigte Geschichte ist. Aber sei’s drum, unechte Gutmenschen-Märchen haben’s offenbar leichter…

Zum besten ausländischen Film kann ich nichts sagen, weil mir „Una mujer fantastica“ aus Chile noch nicht untergekommen ist – als europäischen Film habe ich seit langem, langem, langem nichts Besseres gesehen als „The Square“ mit seiner unter den Nägeln brennenden Gegenwartsproblematik: Wie verhält man sich in unserer Gesellschaft?

Dass James Ivory für „Call Me by Your Name“ den „Oscar“ für das beste adaptierte Drehbuch erhalten hat, finde ich sehr schön und eine Verbeugung vor einem Mann, der unendlich viel für den Film (und dort auch für die sensible Darstellung der Homosexualität auf der Leinwand) geleistet hat. Timothee Chalamet, der atemberaubende junge Darsteller in diesem Film, ist jung genug, um den „Oscar“ schon noch einmal zu bekommen…

Was soll man sonst zu den „Oscars“ sagen? Dass die Show der Kleider, die von den weiblichen Stars getragen wurden, mich diesmal gar nicht überzeugt hat (ich sehe mir so was immer dann auch in den Bildstrecken an, die von so gut wie allen Zeitungen geboten werden – ich geb’s ja zu, was soll ich zu meiner Verteidigung sagen?). Und kann es sein, dass Allison Janney mit geringen Variationen das gleiche Kleid trug wie Meryl Streep? Und Jennifer Lawrence soll betrunken gewesen sein? Aber nein, diese Sorgen habe ich nicht…

Renate Wagner

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